Porträt
Ein Präsident mit Herz und Hand
Für Kalyan Banerjee ist die Leitung von Rotary Aufgabe und Berufung
Und jetzt, fast zu seinem eigenen Erstaunen, tritt er seinen Dienst als 101. Präsident von Rotary an (und als dritter aus Indien). An diesem Tag liegt auf seinem Bürotisch neben einigen Papieren und Dokumenten ein Exemplar von Martin Merediths „The Fate of Africa“. Lesen ist Banerjees Leidenschaft, und im letzten Jahr, in dem er sich auf vielen Reisen auf die Übernahme des Amtes von Ray Klinginsmith aus Missouri vorbereitete, hatte er mehr Gelegenheit dazu als sonst. Sein abgetragener Aktenkoffer enthält in der Regel mindestens zwei Bücher und seine zwei Lieblingswochenmagazine: Time, von dem er seit 1961 kaum eine Wochenausgabe versäumt hat, und den Economist. „Ich lese gern über Menschen, die viel geschafft und viel für ihr Land getan haben“, sagt er und unterbricht sich dann: „Apropos – gerade trage ich eine Biografie von Nelson Mandela mit mir herum.“ Banerjee wirkt heute sehr entspannt, wahrscheinlich, weil er seine Frau Binota neben sich hat. Gemeinsam erzählen sie, wie ein typischer Tag für sie aussieht. Im letzten Jahr, sagen sie, wären sie nur die Hälfte der Zeit zu Hause in Vapi gewesen. Ein weiteres Drittel der Zeit lebten sie in ihrer Wohnung in Mumbai, der Stadt, in der United Phosphorous seinen Firmensitz hat, und die restliche Zeit verbrachten Sie im Auftrag von Rotary auf Reisen. Egal, wo er ist, beginnt Kalyan Banerjees Tag um 5.30 Uhr, wenn er sich zunächst dem Yoga widmet – nicht verwunderlich für jemanden, der als RI-Motto vorgegeben hat: Reach Within to Embrace Humanity – Finde Dich selbst und handele mitmenschlich. „Ich mache jeden Morgen für 30 bis 45 Minuten Yoga“, sagt Banerjee. „Wenn wir in Vapi sind, gemeinsam mit einem Lehrer, der jeden Morgen ins Haus kommt. Das mag ich am liebsten. Es ist besser als allein. Dann mache ich einen Spaziergang oder ich gehe zum Trainieren in das Sportcenter unserer Firma, das nur fünf Minuten von uns entfernt ist.“
„In Vapi“, fügt Binota hinzu, „ist bei uns immer offenes Haus. Alle und jeder kommen vorbei. Zum Frühstück stelle ich nicht nur zwei Teller auf den Tisch, sondern immer sechs. Immer kommen Leute vorbei, um Kalyan zu treffen, denn morgens ist die beste Zeit. Beim Abendessen ist es das Gleiche. Ich decke für zwei mehr, und auch das reicht oft nicht.“ Dazu kommt, dass Kalyan oft vergisst, wen er eingeladen hat, etwas, das er ohne Weiteres zugibt. Aber es mache ihr nicht viel aus, sagt sie, denn Chapatis, das delikate Fladenbrot, das täglich gegessen wird, sei schnell gemacht.
Arbeit bis tief in die Nacht
„Nach dem Abendessen flaut der Besucherstrom nicht unbedingt ab, sondern es kann sogar oft sehr spät werden“, sagt Kalyan. „Das umso mehr, weil wir jetzt noch seltener zu Hause sind und Leute vorbeikommen, um die verschiedensten Dinge zu besprechen, Ideen, Pläne und vor allem Probleme. Wir betreiben viele Rotary-Projekte; Schulen, Akademien, Hospitäler, da ergeben sich zwangsläufig Probleme, die besprochen werden müssen: Probleme mit Lehrern oder Schülern, Probleme mit Gebäuden, Probleme der Zukunft – es ist den ganzen Tag viel los.“
Wann immer sich die Möglichkeit bietet, gönnt sich Kalyan nachmittags ein Power-Nickerchen, gefolgt von einer Tasse Tee. „Ich arbeite gern spät in der Nacht, dann kann ich am besten arbeiten. Es ist alles ruhig und die Dinge fügen sich für mich, wenn ich allein bin.“
Rotary als Familie
Doch selbst dazu gibt es nicht allzu oft Gelegenheit. In dem Haus in Vapi mit seinen fünf Schlafzimmern leben nur die beiden, und oft sind daher Übernachtungsgäste da und sitzen morgens mit am Tisch. Es waren zwar immer zwei Plätze für die Banerjee-Kinder freigehalten, doch die sind nun erwachsen und haben selbst Kinder: Ein Sohn lebt in Australien, eine Tochter in Kanada. Trotz der Entfernung kommen die Enkel mindestens zweimal im Jahr zu Besuch.
Als Krankenschwester und Sozialarbeiterin erinnert sich Binota gern an die Geburt ihres zweiten Enkelkindes in Toronto. Um ein Uhr morgens fuhren sie zum Krankenhaus, in der Gewissheit, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Die Aufnahmeschwester wollte sie jedoch davon überzeugen, dass es noch lange nicht Zeit sei, und sie wieder nach Hause schicken. Kaum hatte sie den Raum verlassen, da setzten bei der Tochter heftige Geburtswehen ein. Binota lacht: „Eine halbe Stunde nach unserer Ankunft war alles gelaufen. Ich kenne mich doch aus, und ich kenne meine Familie.“ Mehr und mehr ist Rotary für die beiden zur Familie geworden. „Rotarier sind die Menschen, denen wir uns am verbundendsten fühlen“, sagt Banerjee. „Mit der Zeit hat Rotary immer mehr Bedeutung in unserem Leben erlangt.“ Obwohl er seit fast 40 Jahren Rotarier ist, hat er gerade im letzten Jahr ungemein viel über die Organisation gelernt, sagt er. „Ich habe gelernt, dass Rotary sehr gut organisiert ist und über ein starkes System verfügt. Es ist an mir, es zum maximalen Vorteil für die Organisation einzusetzen.“ Ein Club sei so gut wie sein Präsident, fährt er fort. Eine gute Führung mache einen guten Club, eine schwache Führung einen schwachen. Und genau dort sieht er seine Aufgabe als Präsident: bei der Führung zu helfen, zu inspirieren, zu motivieren und bei der Arbeit von Rotary zu helfen.
Systemeffizienz und Service
Auch auf die Zusammenarbeit mit dem neuen Generalsekretär freut sich der neue Präsident Banerjee. „Ich sehe ihn als eine Person mit hervorragenden Erfahrungen in großen Organisationen und Unternehmen und mit einer reichen internationalen Erfahrung, die verschiedene Länder und Kulturen, Systeme und Methoden umfasst“, sagt er. „Ich glaube, er ist ein sehr unternehmensorientierter Mensch, und ich glaube, dass Rotary das braucht, um effizient und aktuell zu sein. Zugleich ist Rotary aber auch eine Organisation des Services und der Freundschaft. Diesen Touch wollen wir nicht verlieren. Es wird eine interessante Herausforderung, diese beiden Elemente zusammenzuführen: die Systemeffizienz eines schlanken, modernen Unternehmens gepaart mit der Tatsache, dass Rotary eine solch einzigartige Mischung aus allen Kulturen, Ländern, Denkschulen und Perspektiven ist.“
Läuternde Erfahrung
Eine besondere Herausforderung des Amtes des Präsidenten von Rotary International liegt für ihn darin, als Primus inter Pares zu führen, Anführer unter Gleichen zu sein. Präzisiert Kalyan: „Und wenn ich Gleiche sage, meine ich eigentlich die, die besser sind als ich oder qualifizierter bei dem, was sie machen. Jemand kann zu Rotary kommen und sehr überzeugt in seinen Ansichten sein. Doch wenn man am großen Tisch zusammensitzt und die Meinungen von anderen hört, merkt man, dass diese genauso gültig, wichtig, relevant sind. Sogar so sehr, dass man selbst komplett die Meinung ändert. Das ist eine sehr läuternde Erfahrung. Gleichwohl sind die Respektsbezeugungen, die einem entgegengebracht werden, schon toll.“
Angesichts des Kalibers der Mitglieder erübrigt es sich nach Ansicht des neuen Präsidenten, als Führungsperson zu fungieren und aufzutreten. Vielmehr sei es eine Funktion der Richtungsweisung, betont er.
Wie auch immer: Es ist klar, dass Kalyan Banerjee aufgrund seiner Herkunft und Erfahrung ein vielschichtiges Wissen über Rotary mitbringt. In seiner Antrittsrede auf der RI Convention in Montréal ging er darauf ein. „Einige Teile Indiens sind sicherlich noch als Dritte Welt anzusehen, und das gibt mir eine besondere Perspektive auf den internationalen Dienst von Rotary“, sagte er dort. „Ich habe die Wirkung selbst unserer einfachsten Projekte gesehen, ich habe mit eigenen Augen sehen dürfen, welch einen Unterschied unsere Arbeit im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen, bei der Bekämpfung von Hunger und Armut bedeutete, für jedes Dorf, jede Familie, jeden einzelnen Menschen.“
(Mit freundlicher Genehmigung
der Zeitschrift „The Rotarian“)
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