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Porträt

219 Tage im Kanzleramt

Porträt - 219 Tage im Kanzleramt
Brigitte Bierlein, Bundeskanzlerin außer Dienst, hatte die Aufgabe, die Staatsgeschäfte professionell weiterzuführen. © Andy Wenzel/BKA

Sie war die erste Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes und die erste Bundeskanzlerin Österreichs. Genau ein Jahr nach Amtsende gibt Brigitte Bierlein (RC Wien-Graben) erstmals Einblick in ihre sieben Monate am Ballhausplatz.

Hubert Nowak01.01.2021

Entspannt sitzt die ehemalige Bundeskanzlerin in einem breiten Fauteuil. Obwohl hinter ihr bedeutungsschwer eine große Österreich-Flagge steht, ist sie jetzt „ganz privat“. In ihrem eleganten Kostüm wirkt sie freilich, als müsse sie gleich zur Ministerratssitzung oder zum Empfang eines Staatsgastes. Und obwohl „ganz privat“, macht sie sich doch Gedanken, wie die Republik durch die schwierige Zeit kommt. Eine Coronakrise mit nunmehr zwei Lockdowns und ein Terroranschlag Anfang November in Wien beschäftigen auch sie. Da ist sie schon froh, nicht mehr im Amt zu sein, gibt sie unumwunden zu. Die jetzige türkis-grüne Regierung mache das insgesamt recht gut, lobt sie, auch wenn man natürlich immer etwas kritisieren könne. „Wir hätten das natürlich auch bewältigen müssen“, aber die Mission ihrer Regierungszeit war es, die Republik nach den Turbulenzen rund um das ominöse Ibiza-Video in ruhiges Fahrwasser zu bringen.

Dass damals das Parlament gleich der gesamten Regierung das Vertrauen entzogen hat, auch jenen Ministerinnen und Ministern, die mit dem Skandal gar nichts zu tun hatten, habe sie damals auch nicht verstanden, gesteht sie. Aber es war von der Verfassung gedeckt. Und „aus heutiger Sicht war es wahrscheinlich gar nicht so schlecht“, meint Bierlein, denn so konnte ein völlig unbelastetes Übergangskabinett den Druck aus der überhitzten Republik nehmen. Mit allem habe sie gerechnet, aber nicht damit, dass sie das steuern sollte.

Große Entscheidung

Als Bundespräsident Van der Bellen sie Ende Mai 2019 in die Hofburg bat, war ihr schon klar, dass es um die Regierungsbildung gehen würde. Immerhin hat sich der Bundespräsident vertraulich ihre Handynummer besorgt, sie sollte nicht im Dienstauto kommen und wurde vom Hintereingang im Schweizerhof in die Präsidentschaftskanzlei geleitet. Aber Van der Bellen wollte die Spitzenjuristin nicht als Justizministerin, wie sie vermutete, sondern als Kanzlerin. „Das kann ich nicht.“

„Das ist die typische Antwort einer Frau“, so der Dialog hinter der Tapetentür. Da versicherte sich die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes, dass ihr Stellvertreter Christoph Grabenwarter spontan übernehmen konnte, schlief noch eine Nacht darüber – und sagte zu.

Viel Zeit bei großen Entscheidungen hatte sie nie. Auch als sie Vizepräsidentin im VfGH wurde, hatte sie für die Bewerbung nur einen Tag Zeit. „Wenn es drauf ankommt, bin ich schon schnell entschlossen.“ Und so eine Frage bekommt man nur ein Mal im Leben, sagte sie sich, insbesondere als Frau. Ihr war dann auch sehr wichtig, dass die Hälfte ihrer Regierung aus hochqualifizierten Frauen bestand, obwohl sie keine Feministin sei. Sie hat sogar Zweifel, ob Quotenregelungen den Frauen wirklich immer nützen. Das Regierungsteam zu formen war keine leichte Aufgabe. Der Bundespräsident zog die Fäden, in ständigem Kontakt mit ihm und allen Parteichefs ging es darum, dass alle die Übergangsregierung mittragen.

So konnte sogar der heiße Stuhl im Innenministerium besetzt werden. Ihre größte Angst war es, so erzählt Bierlein heute, dass die junge Regierung gleich wieder mit einem Misstrauensantrag konfrontiert würde. Der blieb ihr erspart. Turbulenzen gab es trotzdem genug, selbst in diesen nur sieben Monaten. Etwa als sie in allen Ministerien die Generalsekretäre abschaffte. Oder als ein Minister tief frustriert war, weil der Nationalrat einen Beschluss fasste, den er aus Sparsamkeitsgründen hatte verhindern wollen.

Die schwierigste Entscheidung war die Nominierung eines EU-Kommissars. Bierlein wollte eine Frau. Aber nach Konsultationen mit allen Parteien war klar, dass sie im Parlament nur für den amtierenden Johannes „Gio“ Hahn eine Mehrheit bekäme. Die dann sogar einstimmig. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war dann auch froh drüber, mit Hahn einen Routinier in ihrem Team zu haben. Auch sie hatte ursprünglich den Ehrgeiz, die Hälfte der Kommission mit Frauen zu besetzen, was sie freilich nicht ganz schaffte.

Untereinander per Du

Natürlich wusste auch Brüssel, dass die Regierung Bierlein in Österreich nur bis zu einer baldigen Neuwahl im Amt sein würde. Sie sei, sagt sie, auch einmal ganz offen gefragt worden, ob sie „volles Pouvoir“ habe. Als das klargestellt war, sei sie als Neuling sehr gut aufgenommen worden. „Die Staats- und Regierungschefs sind untereinander alle per Du, das wusste ich nicht. Auch mir wurde sofort das Du-Wort angeboten“, erzählt sie. Die deutsche Kanzlerin Merkel hat sie als erste zu einem Vier-Augen-Gespräch gebeten. Von Merkel ist sie überhaupt schwer beeindruckt. „Die ist sehr präsent und auch noch spät in der Nacht hellwach.“ Das gute Verhältnis in der Runde sei auch nötig, um selbst die unendlichen Nachtsitzungen durchzuhalten. Die Diskussionskultur am runden Tisch der 27 (damals noch 28) sei hoch, sagt Bierlein, wenngleich manche Wortmeldungen schon sehr lange sind. „Die Frauen reden kürzer“, meint Bierlein mit einem Augenzwinkern, aber nur durch das lange Diskutieren kommt es letztlich zu Entscheidungen, die alle mittragen. „Ohne das Einstimmigkeitsprinzip wäre es für die kleineren Staaten schon sehr schwer, nicht überrollt zu werden“, sagt Bierlein als Resümee ihrer Brüssel-Besuche.

Ganz anders und unpersönlich sei dagegen die UNO-Generalversammlung. „Da kann man eigentlich nur in den Gesprächen am Rande etwas einbringen“, so Bierlein. Befremdlich sei für sie auch gewesen, dass fast ganz New York still steht, weil Präsident Trump mit dem Hubschrauber eingeflogen wird. Mit dieser Art von flügelschlagendem Politikverständnis kann die nunmehrige Ex-Kanzlerin erkennbar wenig anfangen. Es war für sie schon schwer genug, sich in den heimischen Politalltag einzufügen. „Da ist man durchgetaktet von früh bis spät, selbst an Wochenenden oft noch tief in die Nacht hinein.“ Offen gesteht sie auch die innere Anspannung, mit der sie ins Amt gekommen ist. „Ich habe ja den Ministerratssaal auch nur aus dem Fernsehen gekannt.“ Und plötzlich musste sie von hier aus die Regierung führen. Auch wenn die vor allem die Aufgabe hatte, einfach nur gut zu verwalten.

Schnell zusammengewachsen

Ihre Regierung hatte keine Staatssekretäre, zudem wurde mit der Usance gebrochen, im Ministerrat auch die jeweiligen Kabinettschefs dabei zu haben. Das hat dem Klima in der nun kleinen Runde gut getan. „Wir haben uns ja untereinander selbst nicht alle gut gekannt.“ Ihren Justizminister Clemens Jabloner kannte sie freilich schon aus Studienzeiten. Außenminister Schallenberg war durch und durch der charmante Sir in der Runde, und so sei man erstaunlich schnell zusammengewachsen. Mit einigen hat sie ein Jahr nach Ende der Amtszeit immer noch guten Kontakt, aber „das sind überwiegend die Frauen“.

Der Sprung ins Zentrum der Politik war einer ins eiskalte Wasser, obwohl sie viele Jahre in der Spitzenjustiz immer politiknahe war, an der Schnittstelle zwischen Gesetzgebung und Vollziehung. „Natürlich bin ich ein politischer Mensch“, sagt Bierlein, aber mit Taktieren und Parteipolitik habe sie sich nie beschäftigt. Doch in Österreich wird schnell fast jede Führungsperson in eine parteipolitische Schublade gesteckt. Das nicht in die Amtsführung durchschlagen zu lassen, war ihr wichtig und war letztlich das Rezept, dass dieses Beamtenkabinett von allen Seiten respektiert war. Dennoch war Brigitte Bierlein erleichtert, als es am 7. Jänner 2020 mit der Angelobung der neuen Regierung vorbei war. „Wir haben alle eine saubere Übergabe gemacht, mit Dossiers über den Stand der Vorhaben und anstehenden Themen. 

Dann wurde ich mit dem Dienstwagen nach Hause gebracht, und das war's dann.“ Da klingt jetzt sogar etwas Wehmut durch, denn seit dieser Stunde ist Brigitte Bierlein in Pension. Auf der Straße wird sie immer noch entweder als „Frau Präsidentin“ oder als „Frau Bundeskanzlerin“ angesprochen. Titel halten lange. Manche bedanken sich jetzt noch dafür, dass sie in einer Krisenzeit das Land geführt hat.

Nun kann sich die Kunstsammlerin wieder mehr ihrer Liebe zur Kultur in Oper, Theater und Galerien widmen. Und ihrem Rotary Club Wien-Graben. Obwohl sie dort schon einmal Präsidentin war, kennt sie nicht mehr alle in dem großen Club. Aber immerhin hat sie da einige prominente Politiker-Kollegen, mit denen sie jetzt ihre Erfahrungen aus dem Innersten der Politik teilen kann.


Zur Person

Dr. Brigitte Bierlein, geb. 1949 in Wien, Jusstudium an der Universität Wien, 1971 Promotion; zunächst Richterin, dann Staatsanwältin, 1990 bis 2002 Generalanwältin in der Generalprokuratur beim Obersten Gerichtshof. 2003 Vizepräsidentin, 2008–2019 Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes. 3. Juni 2019 bis 7. Jänner 2020 Bundeskanzlerin der Republik Österreich

Hubert Nowak
Dr. Hubert Nowak, RC Perchtoldsdorf, ist Buchautor und Medienberater. Er war 40 Jahre lang als Journalist und Manager in verschiedenen Funktionen im ORF tätig, darunter als Moderator und stellvertretender Chefredakteur der „Zeit im Bild“ und als Landesdirektor des ORF Salzburg.

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