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Titelthema

Autokraten ohne Hemd und Rock

Titelthema - Autokraten ohne Hemd und Rock
Das Virus schafft ein neues Wir-Gefühl: In Italien musizieren die Menschen gemeinsam und sprechen sich so Mut zu. © Alessandro Grassani/nyt/redux/Laif

Die Coronakrise zeigt: Die postmoderne Gesellschaft ist noch immer zur Gemeinschaft fähig. Und wir lernen, dass die Demokratie noch lange nicht am Ende ist.

Johann Michael Möller01.04.2020

Grenzen schließen, Landstriche abriegeln, Geschäfte dichtmachen, Menschen unter Hausarrest stellen. Noch immer will man nicht glauben, was da mitten unter uns geschieht, mitten in Europa, mitten in einem der reichsten und freiheitlichsten Länder der Welt. Ist das die Zeitenwende, vor der wir immer gewarnt wurden? Oder erwürgen wir die offene Gesellschaft bei dem Versuch, sie retten zu wollen, wie die Washington Post meint. 

Die übellaunigen Spatzen sind längst wieder da, die es von allen Dächern pfeifen, dass die demokratischen Dämme jetzt endgültig brechen, der staatliche Durchgriff keine Hemmung mehr kennt und totale Kontrolle der Menschen zum Normalzustand zu werden droht. Autoritäre Verhältnisse also, wie sie die Großdenker der Großkrisen schon immer befürchten. Einer von ihnen, der vielleicht prominenteste, ist der italienische Philosoph Giorgio Agamben, den wir gerne zitieren, während seine Landsleute zu Hause auf den Balkonen singen. Die Notstandsmaßnahmen hält er für völlig unbegründet. Sie würden hektisch ergriffen und wollten nur ein Klima der Panik schaffen in der einzigen Absicht, den „Ausnahmezustandn als normales Regierungsparadigma zu nutzen“.

Sein philosophischer Kollege Slavoj Žižek hat ihm daraufhin die simple Frage gestellt, welches Interesse die staatlichen Mächte wohl haben sollten, eine solche Panik zu fördern. Sie richte sich am Ende doch gegen sie selbst. Wahrscheinlich keines, möchte man vermuten, wenn man nicht einem völlig verdüsterten Weltbild zuneigt, das alles für möglich hält, nur nicht die Wirklichkeit selbst. Auch dieser Virus SARS-CoV-2 wäre demnach nur ein soziales Konstrukt, das es schleunigst zu dekonstruieren gälte. Der Erreger als Teil des Erregungszustands. Was für ein hanebüchener Unsinn.

Tatsächlich sind Katastrophen der Nährboden für Verschwörungstheorien jeglicher Art – wie den primitiven, die in der Epidemie nur die Invasion des Fremdartigen sehen, genauso wie den intellektuell elaborierten, die das Seuchengeschehen für eine Ausgeburt systemischer Mächte halten. Die Welt sei ja „gerade ziemlich verrückt“, meint Žižek. Aber eine so „reduktionistische Sicht“ ist es wohl auch.

Zum Glück passiert derzeit das genaue Gegenteil; etwas, was man als die Rückkehr des gesunden Menschenverstandes in die politische Arena bezeichnen könnte. Angesichts der tatsächlichen Bedrohung erscheint das übliche Krisengerede plötzlich aschfahl. Jetzt bestimmt ein anderer Ton die öffentliche Bühne. Der aus der Wissenschaft etwa, wo die Spezialisten in der ihnen eigenen Diktion versuchen, eine komplexe Situation zu erklären; oder die Ärzte, die Entscheidungen auf Leben und Tod treffen müssen. Auch Politiker werden in diesen Tagen zu Krisenmanagern. Sie werden wieder an ihrem Regierungshandeln gemessen und nicht mehr an ihrem Parteiprogramm. Das Vertrauen in die politischen Eliten ist zurückgekehrt, und selbst unsere Kanzlerin findet das passende Wort.

Entzauberte Autokraten

Dieser erstaunliche Wandel lässt sich fast überall beobachten. In Italien etwa, wo das Gesicht der Krise nicht mehr Matteo Salvini ist, der wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint, sondern Giuseppe Conte, der Ministerpräsident, den viele für einen Verlegenheitskandidaten hielten, für einen schwachen Mann an der Leine der Populisten. Das gilt andernorts ganz genauso. Um Marine Le Pen ist es so still geworden wie um die Autokraten in Osteuropa. Trump stolpert der Entwicklung hinterher, genauso wie Boris Johnson in London. Das wahre Leben hat das politische erbarmungslos überholt. Von den „Entzauberten“ spricht die Süddeutsche Zeitung.

Sie stehen ohne Hemd und Rock am Spielfeldrand. Bezeichnenderweise gehören auch die Brüsseler Administratoren dazu, die auf dem ganz falschen Fuß erwischt worden sind. Kein Plan, keine Führung, nirgends. Europa, kommentiert Serbiens Präsident Aleksandar Vučić, sei eben doch nur ein Märchen auf dem Papier. Es sind vielmehr die nationalen Regierungen, die sich jetzt wieder auf ihre Verantwortung besinnen, was deutlich macht, dass Demokratie eben nur im vertrauten Raum funktioniert. Wo die Probleme uferlos werden, wächst das Bedürfnis nach Grenzen. Es sind auch die Zeiten, in denen die Talkshows uneitler werden und man das Nachrichtengeschäft wieder den Profis überlässt. 

Es ist keineswegs ausgemacht, dass solche Phänomene nicht wieder verschwinden, wenn die Gefahren überwunden sind. Keine Öffentlichkeit hält den Ausnahmezustand über längere Zeit aus. Trotzdem zeigt sich in diesen Tagen eine beeindruckende Widerstandsfähigkeit der liberalen Demokratien, denen seit Jahren schon das Totenglöcklein geläutet wird. Es stimmt eben nicht, was die Financial Times unkt, dass China weiter im Vormarsch sei und der Westen nur auf dem Rückzug. Der Systemwettbewerb mit den Autokraten ist noch in keiner Weise entschieden.

Eine heilsame Korrektur

Auch wenn einer wie Giorgio Agamben glaubt, dass der Mitmensch in diesem Überlebenskampf ausgelöscht werde und die Kirchen darüber schweigen, so ist das zivile Leben in den liberalen Gesellschaften eben doch nicht erloschen. Es regt sich vielmehr in der verwirrenden Vielfalt und Widersprüchlichkeit einer freien, ungebundenen Welt. Die einen feiern ihre verantwortungslosen Corona-Partys und horten das Klopapier, die anderen aber singen zusammen und organisieren die Nachbarschaftshilfe im Netz. Die postmoderne Gesellschaft ist noch immer zur Gemeinschaft fähig. Auch die Singulären finden heute zusammen, selbst dort, wo es solche Traditionen gar nicht mehr gibt. Jeden Abend spielt der Pianist Igor Levit im Netz. Fast 200.000 Nutzer hören ihm zu. Was ist das anderes als ein Gemeinschaftserlebnis in verzweifelten Zeiten?

Die endlose Diskussion um die Zukunft der liberalen Demokratie und unserer freien Gesellschaft erfährt gerade eine heilsame Korrektur. Apokalyptiker bestimmen nicht mehr allein den Diskurs. Sie müssen besorgten Pragmatikern weichen, wie den Virologen vom Robert Koch-Institut in Berlin. Ihnen hört man bereitwillig zu, auch wenn sie noch keine Antworten haben. Das Erstaunlichste in diesen Tagen ist das gemeinsame Aushalten von Ungewissheit. Keiner weiß doch, was kommt, es könnte ja noch viel schlimmer werden. Wir putzen jetzt unsere Vitrinen, sagte mir eine Museumsleiterin, deren Ausstellung wieder geschlossen wurde, kurz nachdem sie eröffnet war. Man hat nicht das Gefühl, dass die Gesellschaft darüber in Depressionen stürzt, wie ein besorgter Zwischenrufer in der Süddeutschen Zeitung meint. Der Gang der Entscheidungen und der Ton der Appelle spricht nicht dafür, dass wir morgen früh in einer Gesundheitsdiktatur aufwachen werden.

Doch nicht um die selbstkritische Befragung der Gesellschaft geht es zur Stunde, sondern darum, wer diese Krise wie übersteht. Besorgniserregend, meint Giorgio Agamben, sei gar nicht die Gegenwart, sondern das, „was danach kommt“, das spätere Überleben. Für viele Existenzen, die jetzt massiv bedroht sind, wird das eine prosaische, eine ganz materialistische Frage sein. Demokratie und ein auskömmliches Leben, das ist keine neue Erkenntnis, gehören nun einmal zusammen.