Titelthema
Der kürzeste Weg zur Einheit
Die Wiedervereinigung duldete keinen Aufschub: Die Menschen im Osten befanden sich in den Wendemonaten wirtschaftlich und gesellschaftlich im freien Fall.
Dass sich die letzte und zugleich erste frei gewählte Volkskammer der DDR für den Beitritt zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes entschied, gilt bis heute als der gebotene, zumindest aber der vernünftigste Weg in die deutsche Einheit.
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Aus westdeutscher Sicht habe, wie es der Historiker Rainer Blasius vor Jahren einmal in der FAZ formulierte, das provisorische Bonner Grundgesetz damals seine historische Bewährungsprobe bestanden. Schließlich war es von den Verfassungsmüttern und -vätern für die unter sowjetischer Besatzungsherrschaft lebenden deutschen Landsleute stellvertretend mitformuliert worden und sollte mit der Wiedervereinigung seinen ursprünglich provisorischen Charakter verlieren. Viele Befürworter der Verfassungskontinuität im Vereinigungsprozess fürchteten zudem die Gefahr, dass ein zweiter Anlauf „matter ausfallen und manchen Freiheitswert relativieren würde“, so Robert Leicht in der Hamburger Zeit.
Artikel 20 (2)
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Im entscheidenden Moment setzte sich 1990 also jenes Wiedervereinigungsgebot der ehemaligen Bundesrepublik durch, die sich die Einheit immer nur im Sinne eines Beitritts der DDR zu einer freien Gesellschaft vorstellen konnte, wie sie die Bonner Republik seit ihrer Gründung verkörperte. Dass führende Vertreter der Bürgerrechtsbewegung zu Beginn der Friedlichen Revolution dieses keineswegs als Vorstufe zur Einheit, sondern vielmehr als Teil der großen Freiheitsbewegungen Osteuropas verstanden – mit dem Ziel eines eigenen, freien, demokratischen Landes –, trat angesichts der sich überschlagenden Entwicklungen nach dem Fall der Mauer bald in den Hintergrund.
Die DDR wurde in toto delegitimiert
Die Entscheidung der Volkskammer, der Bundesrepublik nach Artikel 23 beizutreten, fiel dann zwar mit überragender Mehrheit, aber keineswegs ohne vorangegangene heftige Kontroversen. Doch schnell überlagerten die Probleme der untergehenden DDR und des dringend notwendigen Wiederaufbaus alle staatstheoretischen Bedenken. Erst als sich in den Folgejahren unter den ehemaligen Bürgern der DDR, die sich plötzlich als Ostdeutsche begreifen mussten, das Gefühl einzustellen begann, nicht gleichberechtigt in diese neue Einheit eingetreten zu sein, begann man auch wieder, über den Beginn der staatlichen Vereinigung nachzudenken, in der selbst westdeutsche Staatsrechtler wie Christian Tomuschat von Anfang an eine politische wie historische Unwucht erkennen wollten. Vielen Kritikern des Beitritts schien der Weg einer gemeinsamen verfassungsgebenden Versammlung, wie ihn das Grundgesetz nach Artikel 146 als Alternative vorsah, der allemal bessere Weg zu sein für einen Vorgang von solch historischer Tragweite. Schließlich ging es 1990 um den Zusammenschluss zweier Gesellschaften und zweier Staaten, die sich über die Jahrzehnte, was man damals nur ahnte, doch erheblich auseinandergelebt hatten.
In der Rückschau sieht man vieles heute klarer. Aber die Vorstellung eines eigenen politischen Selbstbewusstseins der Menschen in der DDR war hinter dem Zwangscharakter ihres staatlichen Systems nahezu vollständig verschwunden. Dass man einem Unrechtsstaat in irgendeiner Weise nachtrauern könne, war in der tonangebenden öffentlichen Meinung der Bonner Republik unvorstellbar geworden. Und in der gerne beschworenen Nischengesellschaft im Osten sah man nur den Ausdruck einer Mangelgesellschaft, deren Erscheinungsformen sich unter dem Eindruck der prosperierenden, freien Welt ohnehin schnell auflösen würden.
Die Ereignisse sollten dieser Betrachtungsweise lange Zeit recht geben. Für einen eigenen, notwendigerweise zeitraubenden Verfassungsprozess war in den Monaten der untergehenden DDR kein Raum mehr gewesen. Entsprechende Vorschläge für eine „Neue Verfassung der DDR“, wie sie der Volkskammer bereits im April 1990 vorlagen, wurden von dieser schlicht ignoriert. Die bestehende Verfassung der DDR sollte in geänderter Form als Geschäftsgrundlage eines Staates auf Abruf dienen, der sich mehrheitlich ohnehin so schnell wie möglich dem Westen anschließen sollte. Es ging damals eben nicht um den gerechtesten, sondern um den kürzesten Weg zur Einheit. Und die Ungeduld in der Bevölkerung wurde über den langen Sommer des Jahres 1990 von Woche zu Woche größer.
Dass ein Vereinigungsprozess dieses Ausmaßes und mit diesen Konsequenzen nicht ohne Regelungen und im geordneten Rahmen stattfinden konnte, war den meisten Verantwortlichen damals freilich schnell klar, weshalb man unter Hochdruck an einem Einigungsvertrag zu arbeiten begann, der in der Rückschau besehen einen einmaligen Kraftakt sowohl der politischen Willensbildung als auch der gesetzgeberischen und administrativen Institutionen war. Dass sich später auch manche gravierenden Mängel zeigen sollten, war angesichts der zu bewältigenden Aufgabe kaum verwunderlich. Als Schönheitsfehler des Vereinigungsprozesses bleibt jedenfalls, dass der Beschluss der Volkskammer zum Beitritt zur Bundesrepublik bereits gefallen war, bevor die entsprechenden Verfahren und Bedingungen der Vereinigung überhaupt kodifiziert waren. In gewisser Hinsicht kaufte die Volkskammer also die Katze im Sack.
Was heutige Kritiker dabei übersehen, ist der Umstand, dass die DDR spätestens seit der Maueröffnung zu einem „failed state“ geworden war. Hatte das bekannte Schürer-Papier der staatlichen Plankommission bereits gegen Ende der DDR dem Politbüro die Augen über die Pleite der Planwirtschaft geöffnet, so wurden die Auswirkungen eines zunehmend delegitimierten und in sich zusammenbrechenden Staates von Tag zu Tag sichtbarer. Der Richtungswechsel auf der Autobahn, das illegale Wenden auf der Autobahn, das zu einer gängigen Praxis nicht zuletzt westdeutscher Aufbauhelfer wurde, war mehr als nur eine der vielen Wildostgeschichten jener Zeit. Es zeigte die wachsende Ohnmacht der staatlichen Ordnungsorgane der DDR, die man vor allem als Teil des Repressionssystems der DDR verstand und nicht als Garant einer notwendigen alltäglichen Ordnung.
Über allem lag die große Ungeduld
Der Osten schien in dieser Zeit buchstäblich zu verwildern. Die alten Hierarchien und Autoritäten begannen sich aufzulösen, ohne dass schon neue Ordnung an ihre Stelle treten konnte. Und über allem lag die große Ungeduld. Der bekannte Slogan „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“ brachte diese Stimmung auf den Punkt. „Was treiben die da in Berlin? Warum dauert das mit der Einheit so lange?“ waren Fragen, die viele Menschen auf der Straße bewegten. Eine neue, möglichst gründlich diskutierte Verfassung war zu jener Zeit kein öffentliches Thema mehr. Weshalb der frühe Vorstoß des Fraktionsvorsitzenden der Deutschen Sozialen Union (DSU) in der Volkskammer Hansjoachim Walter, die Vereinigung mithilfe eines einfachen Überleitungsgesetzes zu beschleunigen, durchaus der weitverbreiteten Meinung entsprach. Der damalige letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, der Helmut Kohl zunächst zur Eile gedrängt hatte, wurde dann zum Inbegriff eines politischen Bedenkenträgers, der erst regeln wollte, was sich noch regeln ließ.
Ein großes Thema war neben der Wirtschaftsordnung der föderale Aufbau der wiedervereinten Republik. Denn es sollte ja nicht die DDR, sondern die wieder entstandenen oder neu geschaffenen Länder des Ostens beitreten. Die aber hatte die DDR schon in ihren Anfängen abgeschafft und durch Bezirke ersetzt, die sich häufig den gewachsenen historischen Ländergrenzen widersetzten. Es war also nicht nur ein territorialer, sondern auch ein verwaltungstechnischer Neuaufbau notwendig.
Das betraf alle Institutionen der Daseinsvorsorge, war aber für den Kulturbereich besonders heikel, der als Aushängeschild des sozialistischen Staates diente und folglich zentral gelenkt, finanziert und verwaltet wurde. Wohin also mit den ehemaligen Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten in Weimar, die das gesamte Erbe der deutschen Klassik im kulturpolitischen Sinne des neuen Arbeiter-und-Bauern-Staates umfasst und repräsentiert hatte?
Einem vergleichsweise nebensächlichen Thema wie dem jeweiligen Landeswappen schenkte man damals eine besondere Aufmerksamkeit. Damit entschied sich quasi symbolisch das historische Selbstverständnis der neuen Länder. Sachsen mit seiner vielhundertjährigen dynastischen Kontinuität hatte es mit dem alten Rautenkranzwappen sehr viel leichter als etwa ein neu geschaffenes Bundesland wie Thüringen, das in seiner jetzigen Form nur auf ein paar Jahrzehnte seines Bestehens zurückgreifen konnte.
Schnell sollte eine Landesverfassung her
Dabei spielte auch die Landesverfassung eine nicht unbedeutende Rolle. In Thüringen gab es damals wie auch in Sachsen eine Art Zwischenparlament, den politischen Aufbaustab zur Bildung des Landes Thüringen. Dort waren alle wichtigen Themen mit eigenen, parteipolitisch besetzten Arbeitsgruppen vertreten. So gab es etwa eine Arbeitsgruppe Verwaltungsaufbau oder eine Gruppe, die sich um die Neuordnung der Kulturlandschaft kümmern sollte. Und es gab eine Arbeitsgruppe zur künftigen Landesverfassung, in der zwar leidenschaftlich diskutiert wurde, die aber in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Brot-und-Butter-Themen dominierten. Die Landesverfassung gehörte nicht dazu.
Entsprechend hatte die tonangebende und nach der Volkskammerwahl im Bündnis mit der Bauernpartei und dem Demokratischen Aufbruch sich durchaus schon als künftige Regierungspartei wähnende CDU die Arbeitsgruppe zur Landesverfassung eher links liegen gelassen. Dort aber sammelten sich gerade jene politischen Kräfte, die der Chance eines eigenen demokratischen Neubeginns nachtrauerten und dem bloßen Vollzug der Einheit eher distanziert gegenüberstanden.
Das fiel den verantwortlichen Christdemokraten um den damaligen Landesbeauftragten und späteren Thüringer Ministerpräsidenten Josef Duchač freilich erst auf, als der Entwurf einer Landesverfassung bereits Gestalt angenommen hatte und keineswegs ihren Vorstellungen entsprach. Deshalb beauftragten sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das damalige Partnerland Rheinland-Pfalz und das dortige Justizministerium, einen Gegenentwurf zu formulieren. Diese Aufgabe übertrug der amtierende Justizminister Peter Caesar einem seiner fähigsten Beamten, der in wenigen Tagen einen entsprechenden Entwurf zu Papier brachte, gleichwohl mit deutlich liberaler Handschrift, was den eher konservativen CDU-Politikern keineswegs schmeckte.
Trotzdem sollte dieser Alternativentwurf so schnell wie möglich der Thüringer Öffentlichkeit präsentiert werden, weshalb man ihn in einer Art „Fait accompli“ der Landespresse vorstellen wollte und sich dafür das Landratsamt in Eisenach aussuchte, dessen Hausherrn man freilich vergessen hatte, darüber zu informieren. Die versammelten Medien warteten also vor verschlossenen Türen auf den angekündigten Justizminister Caesar, der direkt von einer Übung der Bundeswehr kommend in voller Uniform aus seinem Dienstwagen sprang und den verdutzten Journalisten und Landespolitikern erklärte, ihnen die neue Landesverfassung des Freistaats Thüringen mitgebracht zu haben. In der Eile hatte er vergessen, das Deckblatt von den auszuhändigenden Kopien zu entfernen. Dort stand in aller Unschuld der Absender: das Justizministerium Rheinland-Pfalz, was so peinlich war, dass sich die anwesenden Vertreter der Thüringer CDU umgehend auch von diesem Entwurf wieder distanzierten. Man hat dann nie wieder etwas davon gehört.
Beim Festakt auf der Wartburg, wo die neu geschriebene Thüringer Verfassung dann schlussendlich verabschiedet wurde, feierten sich die neuen politischen Kräfte des Landes selbst. Dass einer der wichtigsten Köpfe der Erfurter Bürgerbewegung dazu erst auf Intervention eines Aufbauhelfers aus dem Westen eingeladen wurde, sei nur am Rande vermerkt. Die Posse um die Thüringer Landesverfassung zeigt jedenfalls exemplarisch, dass sich die Sorgen der Menschen in jenen Wendemonaten um ganz andere Dinge drehten als um Verfassungsfragen. Womöglich wäre der Weg zur Einheit über Artikel 146 und eine verfassungsgebende Versammlung der würdigere gewesen. Aber die Wiedervereinigung duldete keinen Aufschub. Die Menschen im Osten befanden sich 1990 wirtschaftlich wie gesellschaftlich im freien Fall.
© Antje Berghäuser rotarymagazin.de
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