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Facetten einer versehrten Welt
Die Erinnerungen Irina Scherbakowas zeichnen in zarten Tönen ein lebendiges Bild vom Alltag in der untergegangenen Sowjetunion
Erst nach hundert Seiten erschließt sich der wunderbar schwebende Titel dieser Lebenserinnerung. Dann beschreibt die russisch-jüdische Historikerin und Germanistin Irina Scherbakowa die Hände ihres Vaters, eines bekannten Literaturkritikers, seine Kriegsverletzungen, das Fehlen der Speiche am linken Unterarm und einiger Finger an der rechten Hand – die Wunden aus Stalingrad. Das ist viel mehr als eine Episode ihres Buches. Die Hände ihres Vaters sind das Symbol einer versehrten Welt, die sie von Anfang an war und die bis heute nicht heilen will. „Die Angst“, schreibt Irina Scherbakowa, „die sich damals in den Menschen einnistete, verschwand nicht mehr.“
Parabel auf den Sowjetmenschen
Ihre Autobiografie ist eine Familiengeschichte und doch zugleich eine Parabel auf die Menschen der sowjetischen Zeit, auf den Einzelnen, nicht auf das Kollektiv. Es ist ein Buch, das sich nach innen richtet, obwohl es noch gar nicht auf Russisch erschienen ist, das wenig erklärt, aber viel beschreibt und zum Zwiegespräch wird unter Betroffenen. The Whisperers“, die „Flüsterer“ hat der russisch-englische Historiker Orlando Figes seine monumentale Studie über das Leben in Stalins Russland genannt und aus vielen Einzelporträts ein kollektives Psychogramm entworfen.
Auch Irina Scherbakowa wählt den diskreten Ton, aber es ist das Wispern der anderen Seite, derer, die ihre Herkunft preisgaben und sich mit ganzem Herzen der kommunistischen Sache verschrieben; denen ein Leben fortwährender Enttäuschungen und Versehrungen beschert war und die bis zuletzt an ihre gute Sache glaubten. Den Großvater, ein altgedienter Parteifunktionär, trifft buchstäblich der Schlag, als der XX. Parteitag das Scherbengericht über Stalin eröffnet. Die Erkenntnis, schreibt Scherbakowa, dass er sein ganzes Leben und all seine Kraft diesem Regime und diesen Machthabern gewidmet hat, brachte ihn um. Sein Schreibtisch aus dem berüchtigten Hotel Lux bleibt das Verbindungsstück zu ihm.
Wie verheißungsvoller, wie optimistischer hatte es einst doch begonnen. „So viel Neues, Aufregendes! Das Leben klopft an die Türe, das neue Leben. Man muss die Türen weit aufreißen und dem neuen Gast mutig und freudig entgegentreten. Ich bin unendlich glücklich, dass ich jetzt lebe“, bekennt Irina Scherbakowas Großmutter Mira im April 1917 am Vorabend der großen Revolution. Gerade für die russischen Juden, die 120 Jahre lang im Zarenreich gelitten hatten, schien eine neue hoffnungsvolle Zeit anzubrechen. Großmutter Mira ist das Oberhaupt dieser Familiensaga, eine stolze, selbstbewusste, starke Frau.
Und als sie unter den elenden Bedingungen sowjetischer Krankenhäuser kurz vor dem Ende der Breschnew-Ära stirbt, versiegt auch ein Lebensstrom. Es sind häufig die Großmütter, die in den sowjetischen Zeiten den Lebenswillen ihrer Familien aufrechterhalten haben und ihren Enkeln ein Stück Unbeugsamkeit und die Kunde von einem anderen, freieren Leben mitgaben. Es existieren viele Erzählungen davon, auch in Polen und auch in der DDR. Großmütter verkörpern jene Erinnerungen, von denen es heißt, dass sie „nie die privaten Grenzen“ verlassen haben und für die es auch keine öffentlichen Denkmäler gibt. In dieser Großmutter Mira spiegelt sich Irina Scherbakowa unweigerlich selbst, ihre Stärke und Selbstgewissheit, die sie heute im Gespräch ausstrahlt und einen nicht glauben lassen will, was sie Ende der achtziger Jahre selbst notiert: „Plötzlich dachte ich, dass ich keine Kraft mehr habe, dass ich es nicht mehr ertragen kann, dass jede Hoffnung unsinnig ist und jene recht hatten, die das Land verlassen wollten.“
Schicksale von Tätern und Opfern
Irina Scherbakowa hat Russland bis heute nicht verlassen. Sie hat die Stiftung Memorial mitbegründet und ihr großes Thema gefunden: die Schicksale derer zu bewahren, die unter dem Stalinismus gelitten haben – auch die in der DDR. Daraus wird keine Erzählung nur der Opfer oder nur der Täter. Irina Scherbakowa nimmt keine Haltung ex post ein; schreibt keine sowjetische Geschichte in der Rückschau und vom Ende des Scheiterns aus. Sie beschreibt, wie eine Familie am Ende der Zarenzeit sich aus der Enge des jüdischen Lebens einer russischen Kleinstadt im Dreiländereck zur Ukraine und Weißrussland löst, von den großen historischen Umwälzungen erfasst wird und doch das Stigma der verschwiegenen Zugehörigkeit und falschen Nationalität nicht los wird. Es wird zum doppelt falschen Leben im vermeintlich richtigen.
Auch wenn man Teil der Nomenklatura geworden war. Ossip Mandelstam, den Scherbakowa häufig zitiert, hat das in die wunderbare Formulierung von den „Zeiten“ gebracht, die ihn „wie Feuer umzingeln“. Nummer 112 war er dann auf den Deportationslisten des NKWD. Die Erinnerungen an Mandelstams Frau Nadeschda, die „wie eine Nomadin herumgeirrt war, ohne Geld und manchmal wirklich im Elend gelebt hatte“ und doch alles verschenkte, was sie bekam, gehört zu den stärksten Passagen dieser Familiengeschichte. Und wenn man das Bild dieser zarten, alten Frau mit den lebenswachen Augen in einer winzigen Moskauer Wohnung am Ende der siebziger Jahre sieht, dann ahnt man, was innere Freiheit in einer formierten Gesellschaft bedeutet.
Es sind solche Miniaturen, die dieses Buch so lesenswert machen und die von lauter Menschen handeln, die man eigentlich nicht kennt. Wohingegen die großen Figuren des Widerstands, wie Solschenizyn oder Sacharow, erstaunlich blass und anekdotisch bleiben, genauso wie die Stalins, Chruschtschows und Gorbatschows. Von Mandelstam stammt auch jene Zeile aus seinem Gedicht „An die deutsche Sprache“, die für Irina Scherbakowa fast zu einem Leitmotiv ihres Lebens als Übersetzerin geworden ist: „Die fremde Sprache wird mir einst zur Hülle“.
Und dass damit ausgerechnet jene Sprache gemeint ist, die eine russische Kriegsgeneration nur noch aus den mörderischen Abbreviaturen militärischer Kommandos kannte, grenzt für den Leser immer noch an ein Wunder. Es ist auch die warme russische Sprachfärbung im makellosen Deutsch Irina Scherbakowas, aus der man die alte Vertrautheit beider Völker heraushören kann, genau so wie den bis heute nicht gelinderten Schmerz, dass es ausgerechnet Deutsche waren, die in Russland einfielen und die Erde verbrannten. „Sie gehörten doch immer zu uns. Sie waren doch immer schon da“, hat Irina Scherbakowa in einem Interview über die Deutschen bekannt, als sie in Weimar die Goethemedaille erhielt. Auch das ist eine Facette der großen Versehrtheit, von der dieses Buch handelt.
Verlöschende Erinnerung
Es ist die dichte Beschreibung vom Innenleben einer Gesellschaft, die vom Westen als Kollektiv hinter dem Eisernen Vorhang gesehen wurde; und die sich aufzulösen begann, als man sie hätte differenzierter betrachten können. Insofern sind die Lebenserinnerungen Irina Scherbakowas wie ein Nachruf auf eine Vergangenheit, die einmal als große Verheißung erschien und deren private Seite genauso verschwindet, wie die großen Ideen, die sie prägten.
„Nach und nach hat sich unsere ganze Familie in aller Welt verstreut“, heißt am Ende dieser Autobiografie. Und die Erinnerung an diese untergegangene Welt beginnt zu verlöschen fast im selben Moment, als man sich ihrer zu vergewissern versucht. „Aber die Frage, was bleibt, heißt es bei Irina Scherbakowa, muss jeder letztlich für sich beantworten. Genauso wie die Frage, was gewesen ist.“
Buchtipp
Irina Scherbakowa
Die Hände meines Vaters.
Eine russische Familiengeschichte
Droemer Verlag 2017
416 Seiten, gebunden,
22,99 Euro.
© Antje Berghäuser rotarymagazin.de
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