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Schaulustige im besten Sinne
Rudolf Borchardts neu aufgelegte Sammlung „Der Deutsche in der Landschaft“ präsentiert eine Reihe illustrer Geister und deren Blicke auf die Welt
Das Erscheinen und Verschwinden von Büchern ist so wenig zufällig wie ihr gelegentliches Wiederauftauchen. Das zeigt sich einmal mehr im Falle jener merkwürdigen Sammlung von Reiseberichten, die Rudolf Borchardt 1925 unter dem noch merkwürdigeren Titel „Der Deutsche in der Landschaft“ zusammengetragen hat und die jetzt im Verlag Matthes & Seitz wieder erschienen ist – genau zur rechten Zeit, wie ein begeisterter Kritiker schreibt, der sich bei seiner Suche nach dem Deutschen durch dieses Buch auf einen guten Weg geführt sieht. Das möchte man ihm gerne nachempfinden, zumal der Verlag eine besondere Tradition darin hat, dem Zeitgeist auf lustvolle Weise im Nacken zu sitzen.
Alle Welt, vor allem die deutsche, redet zurzeit über Einwanderung und wie schwer das doch sei mit dem Migrationshintergrund. Rudolf Borchardt lässt seine Texte dagegen übers Hinauswandern der Deutschen reden; und noch fast einhundert Jahre nach dem ersten Erscheinen dieser Sammlung ist man berührt von der Frische der Formulierungen, dem weiten Blick dieser Reisenden und einer weltumspannenden Neugier, die sich da offenbart. Das sind keine grüblerischen Zeitgenossen, die lieber hinter dem Ofen hocken und über das Unheil nachdenken, das früher oder später über sie hereinbrechen wird. Das sind im besten Sinne des Wortes Schaulustige, auf die da draußen in der Fremde kein Herz der Finsternis wartet, sondern eine bunte vielgestaltige Welt, der sie zugetan sind und die sie mit einer erstaunlichen literarischen Kraft beschreiben, obwohl sie von Hause aus Geologen, Militärs, Ärzte oder Bibliothekare sind.
Eine bunte vielgestaltige Welt
Das ist überhaupt ein Merkmal der meisten Texte, dass es kaum eine literarische Fallhöhe gibt zu den professionellen Schriftstellern, deren Wanderungen und Weltbeschreibungen Eingang in die große Literaturgeschichte gefunden haben. Wir sind eben doch ein Volk der Dichter und Denker, möchte man mit einem gewissen Wohlbehagen feststellen. „Zu diesen Deutschen will man gern gehören“, wie sich der Rezensent der Literarischen Welt jüngst eingestand.
Da wandert man mit Georg Forster durch das Rheintal oder mit Ludwig Passarge über die Kurische Nehrung; besteigt mit Alexander von Humboldt den Chimborazo und mit Hermann Abich den Ararat. Manche Namen sind zu Unrecht vergessen; manche gehören zu den großen Verfassern von Reiseliteratur. Gelegenheitstexte sind darunter und Glücksgriffe, wie Moltkes „Thrakisch Troische Engen und Ufer“ oder Roons „militärische Ansicht Spaniens“. Damals konnten eben auch preußische Generalfeldmarschälle noch schreiben.
Ein ungewöhnlicher Titel
Wäre es Borchardt nur um eine Sammlung deutschsprachiger Texte gegangen, die verschiedene Reisende aus unserm Land über die Zeiten hinweg verfasst und publiziert haben, dann könnte diese Neuedition wohl kaum mehr als bibliophile Aufmerksamkeit erwarten. Doch das Buch erhebt den Anspruch auf einen besonderen Zusammenhang seiner Autoren, und der ungewöhnliche Titel macht es so aufregend. Schon beim ersten Erscheinen 1925 hat man das so empfunden. Dem Herausgeber, schreibt kein Geringerer als Walter Benjamin in der Literarischen Welt, sei mit dem Titel mehr als eine glückliche Formulierung gelungen. Denn er würde der Hoffnung Ausdruck verleihen, ein „Stück verlorener deutscher Geistergröße“ einzubringen.
Das war ganz im Sinne Borchardts, dem es um eine besondere, um eine deutsche Art der Landschaftsbetrachtung ging; und nur diese Zuschreibung rechtfertigt sein Vorhaben, so unterschiedliche Texte von so unterschiedlichen Autoren, die zu ganz verschiedenen Zeiten und Umständen verfasst wurden, in einem Buch zusammenzubinden. Nicht die Texte, sondern ihre Verfasser verkörpern das verbindende Prinzip. Es geht Borchardt nicht um irgendeine Galerie von Landschaftsbildern, sondern explizit um die „von Deutschen angeschaute und anschaulich gemachte“ Erd- und Länderwelt, wie er in seinem Nachwort betont: „Es ist der Deutsche in der Länderwelt der Erde, der Deutsche in der Landschaft, und es ist darum ein nur innerhalb der deutschen geistigen Geschichte und Charakterwelt, nur deutsch mögliches Buch.“
Das ist ein ungewohnter Blick für heutige Leser, die normalerweise mit solcher Art der Betrachtung überhaupt nichts mehr anfangen können. Aber Borchardts Anthologie lässt sich nicht in genießbare und ungenießbare Teile aufspalten. Man muss ihn schon als Ganzes lesen – und auch verstehen wollen. Gerade der Titel ist die Probe darauf. Borchardts Landschaft – und es ist der Landschaftsbegriff seiner Zeit – entsteht im Bewusstsein des Betrachters. Erst in der Betrachtung konstituiert sie sich, oder wie Georg Simmel es fast zeit- und ortsgleich in der Bremischen „Güldenkammer“ formulierte: „Unser Bewusstsein muss ein neues Ganzes, Einheitliches haben, über die Elemente hinweg… – das erst ist die Landschaft.“
Diese Landschaft ist nicht einfach vorhanden, sie formt sich als Gestalt durch den Betrachter, trägt seine Züge und wird quasi zu seinem Selbstporträt. Walter Benjamin vermerkt diesen physiognomischen Zusammenhang ganz genau, wenn er sich in seiner Rezension fragt, „ob die stilistische und sinnliche Sonderart französischer, englischer, italienischer Prosaisten ebenso klar gerade aus einem Landschaftsbuch herausträte, so klar, dass auch aus deren Texten wie aus diesen deutschen als Selbstporträt, schauenden Auges, vor einer feinen, hintergründigen Landschaft der Kopf des Schreibers selig und ruhig, und alle ihre Züge in den seinen sammelnd, hervortauchen würde.“
Wie in einer Lithophanie erscheint also das Gesicht des Deutschen aus all diesen Landschaften – und genau das meint der Titel. Der „Deutsche in der Landschaft“ ist eben nicht der Reisende, sondern der Schauende, weshalb Benjamin dieses Buch auch nicht „als Rekonstruktion einer deutschen Geistesgeschichte“ liest, wie Franck Hofmann in seinem klugen Postscriptum meint, sondern als Dokument eines geistigen Typus und also einer ästhetischen Figur. Die Gestalt einer Landschaft erfasst man eben nicht durch das Studium ihrer Historie. Sie ist eine plötzliche Offenbarung. Geradezu exemplarisch hieß es damals in Josef Pontens Roman „Siebenquellen“ über den Protagonisten: „Da wusste er plötzlich – es war wie ein Blitzschlag – was eine Landschaft ist!“ Borchardt tappt auch nicht in die völkische Falle.
Die auf deutsche Weise angesehene Landschaft muss nicht notwendigerweise eine deutsche Landschaft sein. Der Deutsche, schreibt er, dieses „nie zur Ruhe gekommene Kind der Völkerwanderungen“, ist überall zu Haus und nicht zu Haus, ist zu Haus, wo er eben steht. Die Welt geht in ihn ein, indes er in die Welt aufgeht.“ Das folgt nicht dem Landschaftsdenken eines Josef Nadler, auf dessen folgenschwere, nur weniger Jahre vor Borchardts Sammlung erschienene „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ das Postscriptum überraschend hinweist. Borchardts Deutscher in der Landschaft ist kein „tümelnder“ Deutscher; er ist vielmehr ein Mensch der Moderne und Träger einer ästhetischen Idee.
Die Aktualität des Buches
Sein „in der Landschaft sein“ ist ein Programm der Selbstentzifferung: Gerade in der Vielfalt erkennt der Deutsche sich selbst. Vielleicht liegt darin das Geheimnis, warum dieses Buch so wenig verstaubt und altmodisch wirkt; und warum man es gerne wieder zur Hand nimmt. Auch heute noch. Nicht aus antiquarischer Lust an historischen Texten, sondern weil uns der Autor vor Augen führt, wie man als Deutscher in der Welt sein kann, ohne sich dabei selbst aus den Augen zu verlieren.
Buchtipp:
Rudolf Borchardt, Der Deutsche in der Landschaft, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018, 552 Seiten, Softcover Leinen, 25 EUR, matthes-seitz-berlin.de
© Antje Berghäuser rotarymagazin.de
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