Ernährung
"Richtig essen – und Stress abbauen"
Ein Gespräch mit Dr. med. Ute Gola, RC Berlin-Gendarmenmarkt, Geschäftsführerin des Instituts für Ernährung und Prävention (IFEP), Berlin
Frau Dr. Gola, Sie beschäftigen sich beruflich mit unseren Ernährungsgewohnheiten und behaupten, dass richtig essen erlernt werden muss. Wie kommen Sie darauf?
Wenn man sich anschaut, wie sich unsere Ernährungsweise verändert hat, sehe ich das Problem, dass viele Zeitgenossen das Selbstvertrauen verloren haben, sich richtig zu ernähren. Grob vereinfacht kann man heute zwei Hauptgruppen unterscheiden: Den einen ist relativ egal, was sie essen, Hauptsache, es schmeckt und ist billig. Die anderen wollen in der Ernährung alles richtig machen und möchten das quasi zertifiziert bekommen. Das aber kann Ernährung nicht leisten. Wir müssen also lernen, herauszufinden, was gut und richtig für uns ist.
Diese Unsicherheit ist kennzeichnend für die moderne Arbeitsgesellschaft. War denn in der guten alten Zeit alles besser?
Nein, sicherlich nicht. Aber die Ernährungsfrage war relativ einfach gelöst. Das Essen war gut, wenn drei Faktoren stimmten: Verfügbarkeit, Verträglichkeit und Geschmack. Was dazu aufgetischt wurde, stand in einem Kochbuch, das in der Familie traditionell weitergereicht wurde. Warum das heute anders ist, hat viele Ursachen, soziale und wirtschaftliche. Die Ernährungsindustrie hat darauf reagiert und die Einschränkung der Verfügbarkeit aufgehoben. Sie können heute jederzeit jedes gewünschte Gericht erhalten und müssen sich zum Beispiel nicht mehr nach saisonalen oder regionalen Einschränkungen richten.
Was ist daran falsch?
Die Verfügbarkeit verführt dazu, dass wir uns einseitig ernähren. Wenn alles jederzeit zu kaufen ist, warum sollte ich dann etwas essen, was ich nicht kenne oder was nicht zu meinen Lieblingsspeisen gehört? Dadurch geht die geschmackliche Vielfalt verloren. Wo die Küchenfertigkeiten unserer Vorfahren nicht mehr zählen, verlieren wir auch die Kreativität, aus den oftmals nur eingeschränkt vorhandenen Lebensmitteln etwas zu zaubern, das uns ernährt und auch noch schmeckt.
Kann man Geschmack lernen?
Ja, aber das ist ziemlich mühsam. Jede Mutter kennt das, wenn sie ihr Kleinkind an Möhrenbrei gewöhnen will. Erfahrungsgemäß muss ich Kindern sieben-, achtmal eine Speise anbieten, bis sie akzeptiert wird. Ernährungserziehung ist ungemein wichtig, um Lust auf Vielfalt zu wecken. Wer viermal in der Woche ein Fertiggericht zu sich nimmt, dem kann man buchstäblich nichts anderes mehr schmackhaft machen.
Was empfehlen Sie uns gestressten Mitteleuropäern, wenn wir zu einer ausgewogenen Ernährung zurückkehren wollen?
Sie sollten auf einen hohen pflanzlichen Anteil achten, saisonale und regionale Besonderheiten berücksichtigen – wenn Sie beispielsweise Spargel nur in der Spargelzeit essen, steigen Vorfreude, Wertschätzung und Genuss – und Sie sollten Ihre individuelle Mahlzeitstruktur entwickeln. Statt den ganzen Tag über jedes Hungergefühl sofort zu stillen, sollte man seine Mahlzeiten planen. Das bedeutet auch, sich die Zeit für ihre Zubereitung zu nehmen. Über diese Planung erhält der Tag eine Struktur, und das trägt zum Stressabbau bei. Ich habe das Gefühl, den Widrigkeiten des Alltags nicht ausgeliefert zu sein, sondern mein Leben selbst in der Hand zu haben.
Die Fragen stellte Matthias Schütt
Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.
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