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Heimat hat wieder Konjunktur

Lange Zeit verpönt, sind Region, Stadt und Kiez wieder in aller Munde. Das wurde auch Zeit, meint Henning von Vieregge. Denn der Verzicht auf einen Ort der Geborgenheit kann ebenso zu geistiger Verengung führen wie dessen Überhöhung.

Henning von Vieregge01.11.2017

Kindermund tut Wahrheit kund, heißt es. Das stimmt natürlich nicht immer, aber es ist schon spannend und ertragreich, Kindern genau zuzuhören. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat vor einigen Monaten Kinder zum Thema „Heimat“ interviewt.
Journalist: „Heimat, das ist ein interessantes Wort. Was heißt das denn?“
Nike (Drittklässlerin, Mutter Schwedin): „Heimat heißt, wo man sich am besten fühlt, und da, wo man herkommt.“
Ian (dto., Mutter Bolivianerin): „Wo man sich wohl fühlt und wo die Familie ist und die Menschen sind, die man liebt.“
Heimat hat Konjunktur. Der Tagesspiegel titelt ganzseitig „Heimweh nach Heimat. Warum es sich lohnen könnte, den Heimatbegriff vor den Rechten zu retten“ (Tagesspiegel 6.10.2017). Nachdem die AfD nun tatsächlich ein zweistelliges Wahlergebnis eingefahren hat, und alle anderen sich wechselseitig bescheinigt haben, dass jeweils der andere daran schuld sei, beginnt nun die ernsthaftere Aufarbeitung. Und dabei stößt der weltbürgerlich angestrichene Heimatverächter aus dem linken Mainstream auf den Heimatbegriff und fragt sich in einem Anfall von Selbstkritik, ob die Häme von gestern nicht auf den Prüfstand gehört.  
Aber wie dieses so oft missbrauchte Allwort mit Inhalt füllen, der sich in beide Konzepte, in das Konzept von der offenen Gesellschaft und in das von der wehrhaften Demokratie, konstruktiv einfügt? Lässt sich der Begriff neu beleben, ohne dass man in die Wagenburg-Falle tappt, die Heimat mit der Abwehr alles Neuen und alles Fremden gleichsetzt?  
Heimat, das ist: sich wohl angenommen und sicher zu fühlen; man ist angekommen und geblieben. Heimat ist ein Grundbedürfnis des Menschen.

Annäherung an den Begriff
Der deutsch-rumänische Schriftsteller Richard Wagner sagt: „Heimat ist eines der schönsten Wörter der deutschen Sprache.“ Peter Cachola Schmal, Direktor des Frankfurter Architekturmuseums und Kurator des deutschen Beitrags zur Architekturbiennale 2016 in Venedig, schreibt im Vorwort zum Begleitbuch „Heimat ist ein deutscher Begriff, der sich schlecht in andere Sprachen übersetzen lässt.“ Und fragt dann: „Wie sieht es aus mit einer ‚zweiten‘ oder ‚neuen‘ Heimat?“  
Ein Beispiel, wie zwei Menschen, hier Mutter und Tochter, die aus Rumänien als Banater Schwaben nach Deutschland kamen, unter Heimat ganz Unterschiedliches verstehen können, findet sich in Herta Müllers Roman „Herztier“: „Das ist nicht unser Haus, dort wohnen jetzt andere, schrieb ich der Mutter. Zu Hause ist dort, wo du bist… Und die Mutter schrieb mir zurück: Was zu Hause ist, kannst du nicht wissen. Wo der Uhrmachertoni die Gräber pflegt, das ist sehr wohl zu Hause.“  

Beheimatung beginnt in einem selbst
Man kann sich selbst beheimaten. Vielleicht muss man es sogar. Und zwar in zweifacher Hinsicht: innerlich und äußerlich. Einfacher als die innere Beheimatung ist die äußerliche, örtliche. Jedenfalls dann, wenn man sich die nachfolgende Liste, die nach einem Beitrag in der Psychologie heute (in Nr.12/2016) zusammengestellt wurde, vornimmt. Die Liste:

1. Flanieren
2. im Ort einkaufen
3. auf Nachbarn zugehen
4. am Ort  sich Freude machen
5. die unmittelbare Natur
kennen lernen
6. sich engagieren (erst einmal
in Projekten)
7. im Ort essen gehen
8. den Lokalteil lesen
9. vor Ort was Neues machen
10. loyal bleiben

Entheimatung
Wenn die Verhältnisse unerträglich werden, hilft nur, wegzuziehen, schlimmstenfalls in die Emigration. Der Siebenbürger Schriftsteller Hans Bergel, den das kommunistische Regime im sogenannten Kronstädter Schriftstellerprozess  1959 zu 15 Jahren Haft verurteilt hatte und der nach der Haft 1968 in die Bundesrepublik ausreisen konnte, spricht von „einem Gefühl der inneren Entheimatung in der Heimat. … Der einzige Weg war die Emigration.“
Wie wichtig wäre es doch, bei der Diskussion um einen tragfähigen Heimatbegriff die Quellen von Entheimatung aufzuspüren. Eine Quelle ist mit Sicherheit eine Auskühlung („cooling out“) sozialer Beziehungen, wie sie Langzeitarbeitslosen oder anderen Gruppen widerfährt, die sich an den Rand der Gesellschaft abgeschoben fühlen und/oder von Dritten, und sei es in helfender Absicht, dorthin platziert werden. Diese Randlage muss nicht immer durch wirtschaftliche Bedürftigkeit gekennzeichnet sein.
Entheimatung kann so zu verengter Weltsicht führen und diese zur Selbstradikalisierung. „Es war eine primitive Welt, die wir sahen, und wir glaubten ihr, mit primitiven Mitteln zu Leibe rücken zu können“, beschreibt der nachmalige Kommunist Bodo Uhse seinen Weg ins extrem rechte Lager in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Uhse und seine Kameraden gierten nach Waffen. Was ihm zunächst im Bund Oberland, später in der NSDAP, geboten wurde, war freilich mehr: „Ein fester Boden bot sich meinen Füßen, die des schwankenden Grundes meiner Unsicherheit müde waren. Eine Gemeinschaft stand vor mir, in die ich aus meiner Vereinsamung flüchten konnte. Ich sprang hinein.“
Heimatlosigkeit kann also in problematische Selbstentheimatung umschlagen. Aus nicht ausgehaltener Offenheit wird extreme Selbstbindung. Unterwerfung soll nun Lebenserfüllung bringen.

Progressiv heimatlos
Der Schriftsteller Bernhard Schlink schreibt in seinem kleinen Büchlein „Heimat als Utopie“ von der Utopie, keine Heimat zu haben: „Wir wuchsen mit der Vorstellung auf, nach den um dem ‚Platz an der Sonne‘, den ‚Lebensraum‘ geführten Weltkriegen sei Nationalismus historisch erledigt, der Nationalstaat löse sich in europäische und atlantische politische Zusammenhänge auf, Heimat sei überall und nirgends, und wer sich da, wo er war, nicht zurecht finde und wohl fühle, sondern nach einer verlorenen Heimat in Pommern, Schlesien oder Böhmen verlange, sei ein Revanchist.
Wir mochten mehr oder weniger intellektuell interessiert sein. Das intellektuelle Lebensgefühl der Ortlosigkeit, der nationalen Unbezogenheit und Ungebundenheit teilten wir allemal. Wir teilten es gerade als Deutsche, als Kinder der diskreditierten Nation waren wir mit besonderem Engagement Europäer oder Atlantiker und wollten am liebsten Weltbürger sein.“
Heute sieht er es anders. Er spricht von einer neuen Liebe zu Region, Stadt und Kiez und die sei „eine Reaktion auf eine neue, keineswegs ausschließlich deutsche Entfremdungserfahrung.“

Versuche einer Neupositionierung
Das Wahrnehmen dieser Entfremdungserfahrung ist mittlerweile ins Bewusstsein der durch das Abbröseln der Volksparteien erschütterten politischen und medialen Elite gedrungen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat am 3. Oktober in Mainz, nach der Bundestagswahl und zum Tag der deutschen Einheit, den Heimatbegriff rehabilitiert: „Ich bin überzeugt, wer sich nach Heimat sehnt, der ist nicht von gestern… Doch die Sehnsucht nach Heimat dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ,Wir gegen Die‘; als Blödsinn von Blut und Boden; die eine heile deutsche Vergangenheit beschwören, die es so nie gegeben hat… Ich glaube, Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen. Heimat ist der Ort, an dem das ,Wir‘ Bedeutung bekommt. So ein Ort, der uns verbindet – über die Mauern unserer Lebenswelten hinweg –, den braucht ein demokratisches Gemeinwesen und den braucht auch Deutschland“.  Der Heimatbegriff, den hier Steinmeier in die Diskussion einführt, ist mehr als eine Rehabilitation. Der Bundespräsident füllt zweifachen neuen Wein in den alten Schlauch.
Heimat soll in die Zukunft weisen. Das ist durchaus gewöhnungsbedürftig. Denn Heimat und Kindheit, Heimat und gestern, Heimat und früher sind uns gewohnter. Traditionen und Rituale helfen uns, uns beheimatet zu fühlen. Andererseits hat die CSU, insbesondere sie, es in ihrer Kommunikation über Jahre hinweg verstanden, Tradition und Zukunft zur bayerischen Heimat zusammen zu binden, Lederhose und Laptop. Es geht also.
Der Journalist Friedhard Teuffel fühlt sich im oben erwähnten Tagesspiegel-Beitrag an Ernst Bloch erinnert, dessen Vision im „Prinzip Hoffnung“ in der Formulierung gipfelt: „So entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Die zweite Drehung ist die vom ich zum wir. Heimat, sagt Steinmeier, ist der Ort, an dem das „Wir“ Bedeutung bekommt. Manche können sich Heimat ohne Ortszuschreibung vorstellen („ Heimat ist da, wo meine Freunde sind“), andere Heimat lediglich als Ort, real oder vorgestellt, aber für die meisten ist Heimat beides. Und damit ohne Menschen, die uns wohl sind, nicht vorstellbar. Spätestens als Erwachsene bekommen wir aber Zuwendung, Anerkennung, Vertrauen selten als Gabe ohne Gegengabe.
Und hier kommen beide Drehungen zusammen: Heimat ist nicht einfach da, sie muss erarbeitet werden. Für mich und mit den anderen. Diese Sicht nimmt dem Begriff die Enge der Abgrenzung. Der Gegensatz zwischen Heimat und Welt verwischt sich so wie auch der Gegensatz zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das ist die Utopie vom „Umbau der Welt in Heimat“ (Bloch).
Um es etwas niedriger zu hängen: Der eingangs erwähnte deutsche Beitrag bei der letztjährigen Architekturbiennale in Venedig hieß „Making Heimat“. Diese deutsch-englische Überschrift verdeutlicht einen entscheidenden Punkt: Heimat ist nicht einfach da. Heimat ist ein Prozess, den man befördern oder behindern kann.
Dieser Heimatbegriff ist deutlich weiter als der, den der im 19. Jahrhundert schreibende mecklenburgische Dichter Heinrich Seidel mit folgendem Vierzeiler auf die Schippe nahm:  


„Die Kröte kroch mit großem Schnaufen
bedächtig  auf den Maulwurfshaufen
und sah sich um, vor Stolz geschwellt
wie groß ist doch die weite Welt“.