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Titelthema

Sehnsucht erweckende Früchte des Südens

Der weite Weg der Zitronen von den schönsten Hängen Italiens in die erlesenen Märkte und die Küchen der Spitzengastronomie des Nordens

Peter Peter01.08.2017

"Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Das kennen wir, auch wenn wir nicht alle Goethes Wilhelm Meister gelesen haben. Doch wie geht’s weiter in Mignons Lied? „Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn“ – welch poetische Farbenphantasie, welch impressionistische Farborgie!  

Goethes Agrumengärten sind nicht die Apfelsinenplantagen Spaniens, Griechenlands oder Marokkos, die für den EU-Markt produzieren, sondern die Steilküsten Sorrents. Sie sind dunkel, da die im Winter tragenden Bäume mit Matten, die auf bis zu sechs Meter hohe Pergola-Gestänge gespannt werden, abgedeckt werden, um sie vor kalten Seestürmen zu schützen. An manchen Abschnitten sieht die Sorrentina dann aus, als hätte Christo sie in Schwarz verpackt... 

 

Früchte einer alten Seerepublik

Es ist kein Zufall, dass an den Küsten Neapels und in Sizilien die frühesten Agrumen Europas reiften. Denn diese Früchte, deren Heimat in Indien oder China liegt, sind über den Orient zu uns gekommen. Eine Pionierrolle hat hier die mächtige Seerepublik Amalfi mit ihren Handelskontoren im östlichen Mittelmeer gespielt. Amalfitanische Seeleute brachten die ersten Zitronen mit und nannten sie limoni nach dem arabischen Wort laymun. Schon vor dem Jahr 1000 begannen Klöster, Zitronengärten anzulegen und begründeten den Weltruhm der Amalfi-Zitronen. 

Die leicht gekerbten Früchte mit dem Krönchenzipfel und der betörend duftenden Schale reifen in atemberaubend terrassierten Steillagen. Dass sich die Zitronenbauern diese Knochenarbeit weiterhin antun, verdankt sich den Spitzenpreisen, die Köche aus aller Welt gern für diese einzigartige alte Sorte, die 2001 durch EU-Gütesiegel geschützt wurde, hinlegen. Und dem Boom des Limoncello: Da dieser Modelikör eigentlich nur aus Alkohol, Zucker, Wasser und Zitronenschalen bestehen sollte, kommt natürlich alles auf die ätherischen Öle und die olfaktorische Qualität der Zitrusfrüchte an. Übrigens: Das früheste Limoncello-Rezept stammt von dem ägyptisch-jüdischen Arzt Ishaq Ibn Suleyman al-Israeli im 10. Jahrhundert, die älteste schriftliche Limonade von dem kurdischen Leibarzt des aus den Kreuzzügen bekannten Sultans Saladin. 

Wieso sagen wir eigentlich Zitrone statt Limone? Ganz einfach: Lange, lange bevor frische Früchte zu uns den Weg in den Norden fanden, wurden kandierte Agrumenschalen exportiert – ein echter sächsischer Stollen ist ohne Orangeat und Zitronat nicht vorstellbar. Aber fürs Kan-
dieren (wieder ein arabisches Wort!) eignen sich limoni nicht so gut wie die sogenannten cedri, die schon in der Antike als Luxusfrucht gehandelt und im Deutschen umständlich als Cedrat-Zitronen bezeichnet werden. Diese bis zu kindskopfgroßen warzigen Früchte besitzen einen winzigen Kern Fruchtfleisch, dafür aber eine dicke weiße aromatische Innenschale, die als gesalzener Salat genossen – oder seit jeher kandiert wird. So haben wir Zitronat kennengernt und den Namen später auf die Zitrone übertragen. 

Besonders prächtige Exemplare frischer cedri, wie sie an der kalabresischen Küste von Diamante wachsen, sollen Preise bis zu 200 Euro erzielen. Einen hohen symbolischen Stellenwert haben die seltenen Früchte bei der Feier des jüdischen Laubhüttenfests – Rabbis aus aller Welt streben im Herbst in das Dörfchen Santa Maria del Cedro, um sich die makellosesten Exemplare zu sichern. Die Etrog-Frucht, für die eigens Silberbüchsen und Schalen geschmiedet wurden, gehört zum rituellen Festbouquet und durchduftet jüdische Wohnzimmer mit ihrem herben Aroma. 

Das Aroma der Zitrusfrüchte betört seit eh und je. Der Immigrant Johann Maria Farina kreierte 1709 mit einem Duftwässerchen aus kalabresischer Bergamotte-Essenz einen Welterfolg, der immer noch in Deutschlands ältester Parfüm-Manufaktur zu erwerben ist – Kölnisch Wasser. CK von Calvin Klein, das meistverkaufte neuere Parfüm, gehört wie Eau de Rochas oder Ô de Lancôme zur sportlich-frischen Düftefamilie der hespéridés, benannt
nach den geheimnisvollen Früchten, die Herakles im Garten der Hesperiden erbeutete. Im provençalischen Grasse, dem Mekka der Düfte, setzt man verstärkt auf den Trend zu Zitrus und Mandarine. Schließlich bissen französische Hofdamen schon in der Renaissance auf Limonenblüten, um den Atem frisch und die Lippen rot zu halten...

Blüten und Blätter sind in der süditalienischen Küche bis heute eine frisch gepflückte Delikatesse. Das neapolitanische Ostergebäck pastiera besteht aus gequollenen Gerstenkörnern, die mit zagara (Orangenblütenöl) aromatisiert werden. Und Bäuerinnenrezepte, Kaninchen oder Huhn vor dem Grillen in Zitronenblätter zu verpacken, erleben ein spannendes Revival in der cucina regionale

 

Kultfrucht der Spitzenküche

Zitrone ist nicht gleich Zitrone. Der Konsument, der Koch hat die Wahl. Früchte mit makellos glatter Optik, die wie ein Ei dem anderen gleichen und eine gewachste Schale haben – nicht zum Verzehr geeignet! Oder er greift zum Design-Klassiker der Wirtschaftswunderzeit: Sizilia-Zitronensaft im caprigelben Plastikfläschchen. Oder er taucht ein in die Aromen- und Sortenvielfalt einer Epoche, als Südfrüchte noch ein exotischer Luxus waren. Lange bevor die Riesen-Tiefkühlhallen für halbreif geerntete Früchte entstanden, wurden die „dunklen Orangen“ von Sorrent in kühlen Tuffgrotten gelagert, so dass man auch im Sommer noch liefern konnte. Dann wurden sie von Hand in buntbedruckte Papiere gewickelt, in Holzkästchen in die Häfen des Nordens transportiert und als Delikatesse genossen. 

Was beim Wein geht, geht auch bei Zitronen: hohe Wertigkeit durch Betonung des Terroirs, der kulturellen Aura und der in Jahrhunderten gewachsenen Einzigartigkeit eines Anbaugebiets, durch die Pflege seltener Sorten mit hoher sensorischer und gustativer Qualität. Beispiel für dieses Revival ist der Gardasee, wo verlassene Limonaia-Gewächshäuser wieder in Schuss gebracht werden. Oder der Kult, den Michelin-Köche wie Gérald Passedat in Nizza mit den raren kleinen Menton-Zitronen der Côte d’Azur betreiben. Das kann durchaus in modisches Cross-Over münden. Eines der spannendsten Produkte der Grande Nation sind nach marrokanischer Art eingelegte Menton-Salzzitronen, mit denen Filets von Rotbarbe, Drachenkopf oder Sardinen mariniert werden. 

Die allerraffinierteste Agrumenverehrung wird im „Steirereck“ in Wien zelebriert. Österreichs höchstdekoriertes Restaurant präsentiert am Ende des Menus hauchdünne, heißluftgedörrte Spalten von Pomeranzen, Pampelmusen, Mandarinen und Zitronen, die in den Orangerien des Schlosses Schönbrunn gereift sind – ein kulinarisches Sinnbild für die verwirklichte Sehnsucht nach dem Süden.  

Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.

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