Titelthema
Von flexitarischen Großmüttern lernen
Unter der Woche vegetarisch, sonntags ein Stück Braten – vielleicht die beste Lösung?
Vegane Patties bei Lidl ausverkauft!“ Mitten in der Grillsaison wurde Deutschland durch diese Schreckensnachricht aufgerüttelt. Mancher Familienvater griff notgedrungen auf Schweinsbratwürste zurück, anstatt die kultigen US-Burger mit dem Rote-Rüben-roten Kern auf den Rost zu packen.
Ein gelungener Marketing-Gag durch bewusste Verknappung. Mit dieser Aktion ist vegan endgültig in der Mitte unserer bundesdeutschen Ernährungsmentalität angekommen. Denn hier wird geschickt ein echtes Bedürfnis nach leichterer Kost angesichts unserer bewegungsarmen Arbeitswelt aufgegriffen. Vorbei die Zeiten, als der radikale Verzicht auf tierische Produkte ein philosophisch unterfüttertes Protestverhalten gegen Tierqual und den katastrophalen ökologischen Fußabtritt der Massentierhaltung war? Als die Bewegung für die Selbstoptimierung junger urbaner Eliten stand, die bunter, gesünder, weltoffener kochen wollten. Die Influencern wie dem durchtrainierten Berliner Rezepteschmied Attila Hildmann folgten, der neben köstlichen Tipps für Zucchini-Spaghetti auch Fitness durch vegane Leberwurstbrote verspricht.
Es bleibt befremdlich, wie sich der vegane Mainstream am Konzept fleischlicher Ersatzprodukte festkrallt. Ist es unsere carnivore Sozialisation oder ist es das Brat- und Brutzel-Erlebnis des Neo-Macho-Trends zum Grill, das uns nach in Laboren zusammengemixten Veggie-Buletten greifen lässt? Oder ist es der Sachzwang, dass angesichts des freiwillig eingeengten Geschmacksspektrums wir eigentlich viel mehr Zeit und Sorgfalt auf Produktauswahl und Gemüseschnippeln aufwenden müssten? Die Supermarkt-Message lautet: Vegan geht genauso einfach und schnell – auch wenn wir dafür meist ein Stück Ernährungshoheit abgeben. Die gern herbeigeschriebene Zuspitzung Fleischlobby gegen vegane Moralkeule sollte passé sein. Denn der Konsument und Genießer könnte von beiden lernen. Der vegane Ansatz hat unseren Speisezettel enorm bereichert: feinere alte Sorten, Gewürze, Kräuter, gemörserte Nusspasten und Mandelmus. Auch wenn sich die Tester noch zurückhalten, so spricht nichts gegen eine vegane Top-Küche, die in mit kalt gepresstem Walnussöl betropftem Steinpilzcarpaccio, Berglinsensalat oder Hartweizenpasta mit Trüffeln schwelgt. Die Ayurveda ebenso integriert wie buddhistische Tempelkost aus fermentiertem Tofu und dazu Lagenrieslinge reicht, die nicht mit Eiweiß geklärt sein dürfen. Alain Passard, vom Rôtisseur zum Gärtner konvertierter 3-Sterne-Koch, hat in seinem Pariser Restaurant Arpège jahrelang vorgemacht, wie Fleischfrei auf höchstem Gourmetniveau zelebriert werden kann.
Umgekehrt hat die Trotzreaktion der Riesensteakgriller das Gespür für gesundes, gereiftes Fleisch von Weidetieren geschärft – weg von der Quäl-Billighaltung. Kurzum, vielleicht sollten wir uns Großmutters Von flexitarischen Großmüttern lernen Unter der Woche vegetarisch, sonntags ein Stück Braten – vielleicht die beste Lösung? flexitarischen Kochrhythmus zu Herzen nehmen – unter der Woche vegetarisch, sonntags ein Stück Braten. Bleibt das Geschmacksproblem. Und da muss man klipp und klar sagen – das Aroma einer reifen Walderdbeere oder Wildspargelspitze ist einzigartig. Ein Surrogat aus Vegan-Lyoner oder Wiener- Jackfruit-Schnitzel kann nicht an das Original heranreichen. Weswegen all diese Imitate am akzeptabelsten munden, wenn man sie wie beim Hamburger mit Senf, Ketchup, Gurke oder veganer Mayo übertüncht. Wobei – eine fundamentale Crux bleibt: der watteartige Brötchendeckel mag ja zu Fleisch ein notwendiges Pendant bilden, bei veganen Frikadellen wird der „bun“ zur völlig überflüssigen, ja unsinnigen Sättigungsbeilage. Da lob ich mir einen ehrlichen puren Bratling aus Kichererbsen oder Grünkern, auch wenn das spießig klingen mag.
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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