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Titelthema

Lieber Mystik als Wissenschaft

Titelthema - Lieber Mystik als Wissenschaft
Das abgelegene Eiland ist ein Badeparadies. © Massimo Ripani / Schapowalow

Einsamkeit, Magie und vielerlei Geheimnisse: Mit ihren rätselhaften Steinfiguren zieht die Osterinsel jeden Besucher in ihren Bann.

Volker Mehnert01.08.2019

Der Traum meiner Kindheit ist zerplatzt und am Ende doch in Erfüllung gegangen. Wie gern wäre ich mit Thor Heyerdahl auf seinem Boot Kon-Tiki von Südamerika zur Osterinsel gesegelt, um zu beweisen, dass Polynesien von den Inkas besiedelt wurde. Aber Heyerdahl ist tot, seine Theorie längst von der Wissenschaft widerlegt, die Bootstour ein unwiederbringliches Abenteuer aus der Vergangenheit. Die zu Chile gehörende Osterinsel allerdings hat ihre Anziehungskraft nicht eingebüßt, und so bin ich jetzt mit dem Flugzeug unterwegs zur abgelegensten menschlichen Ansiedlung auf dem Globus: 3600 Kilometer von der Küste Südamerikas und 2000 Kilometer von Pitcairn Island, dem nächstgelegenen bewohnten Ort, entfernt. Als „Te Pito o Te Henua“, Nabel der Welt, betrachteten die Ureinwohner ihr Fleckchen Erde, von dem sie annahmen, dass es mutterseelenallein im Ozean schwamm.

Magie und Mysterium
So klein das Eiland auch sein mag, es steckt voller Magie und Mysterium. Dafür sorgen vor allem die 887 Moai, jene wunderlichen Figuren aus Tuffstein, die bis heute ihre Geheimnisse nicht vollständig enthüllen. Man vermutet, dass sie Ausdruck einer Ahnenverehrung waren und zwischen 1000 und 1500 nach Christus entstanden. Als James Cook im Jahr 1774 hier auftauchte, waren sie alle umgestürzt, der Grund dafür ein Rätsel. Und die Fragen gehen weiter: Wer waren die Menschen auf dieser Insel, woher kamen sie? Was stellen die Moai dar – Götter, Ahnen, Grabmale? Warum stehen sie fast alle an der Küste und schauen ins Landesinnere? Wie wurden die tonnenschweren Giganten aus dem Boden herausgemeißelt? Warum wurden sie im Laufe der Zeit immer größer? Einige dieser Probleme haben die Forscher inzwischen gelöst, hinter anderen sind die Fragezeichen dafür umso größer geworden.

Als ich gleich am ersten Tag vor Tongariki stehe, einer der gut zweihundert Plattformen mit den inzwischen wieder aufgerichteten Moai, vergesse ich freilich sofort sämtliche gelehrten Fragestellungen und Debatten. Stattdessen ergebe ich mich dem unergründlichen Zauber der Steinriesen. Beim Blick aufs Meer kann ich nachfühlen, dass das verlorene Häuflein Menschen auf dem einsamen Inselchen einst so etwas Machtvolles wie diese Steinkolosse benötigte, um inmitten des endlos weiten Ozeans einen spirituellen Halt zu finden. Jetzt erscheinen mir die fünfzehn Moai auf ihrem Sockel wie eine Parade von Honoratioren aus einer fernen Epoche, die auf mich herabsehen und sagen: „Was willst du von uns? Lass uns in Ruhe!“

Eine geheimnisvolle Versammlung
Diskret befolge ich die Aufforderung und mache mich auf den Weg zum magischsten Ort auf der magischen Insel, der Geburtsstätte aller Moai. Denn am Südhang des Vulkankraters Rano Raraku scheinen die steinernen Giganten aus der Erde herauszuwachsen. Hier liegt der Steinbruch, aus dem sie alle stammen und in dem noch Dutzende im Boden stecken – in allen Stadien der Vollendung. Mehr als neunhundert Moai – zwei, vier, sechs, zehn Meter hoch – hat man in dieser Steinmetzwerkstatt einst modelliert, und jetzt bilden die Verbliebenen eine verstörende Versammlung. Denn hier wird deutlich, dass die Arbeit von einem Tag zum anderen beendet wurde, die Inselkultur also von einer plötzlichen Katastrophe heimgesucht worden sein muss.

Auf dem Rückweg vom Steinbruch zur Küste treffe ich noch mehr stehende und umgestürzte Skulpturen, und natürlich rufen sie sogleich die unvermeidliche Frage nach ihrem Transport hervor. Doch in diesen mystisch aufgeladenen Momenten auf der Insel möchte ich es am liebsten einfach belassen bei der Darstellung der Insulaner, nach der die Moai von ganz allein zu den Kultplattformen wanderten. Sollen doch einfach noch ein paar Geheimnisse fortbestehen!