Vor 90 Jahren bahnte sich die Gründung des ersten Rotary Clubs in Deutschland an. Ein Aktenfund im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zeigt, dass in der Behörde die Ausbreitung der Organisation lange Zeit skeptisch beobachtet wurde.
Matthias Schütt01.03.2017
Genf, 10. September 1926: Während in feierlicher Sitzung der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund verkündet und damit die Rückkehr des Kriegsgegners in die internationale Staatengemeinschaft besiegelt wird, legt ein Mitarbeiter im Auswärtigen Amt in Berlin einen Aktenordner mit der Aufschrift „Rotary Clubs in den Vereinigten Staaten von Amerika“ an.
Was wie ein Zufall aussieht, ist bei näherem Hinschauen keiner. Zwar gehört es zu den Grundprinzipien Rotarys, sich aus der Politik herauszuhalten, aber gesellschaftlichen Einfluss hat der Serviceclub schon. Und man will sich mit den edlen Ziele der Vereinigung auch aktiv einmischen, etwa indem der „Rotary Spirit“ als innovative Kraft darauf hinwirkt, die internationalen Beziehungen auf eine neue Basis zu stellen.
Beim Durchblättern der Dokumente, die zur Gründung des ersten deutschen Rotary Clubs 1927 in Hamburg führten, wird deutlich, dass einzelne Rotarier schon bald nach Kriegsende, bevor an einen Beitritt zum Völkerbund überhaupt zu denken war, auf eine Einbindung Deutschlands in das rotarische Netzwerk drängten.
Nachdem in Locarno 1925 ein grundlegendes Einverständnis über die neuen Verhältnisse in Europa erreicht worden war, wird die junge deutsche Republik nicht länger als Paria behandelt, der gefälligst seine Kriegsschulden zu begleichen habe, sondern als Partner bei der Gestaltung einer tragfähigen Nachkriegsordnung. Ohne Einigung werde echter Friede in Europa kaum möglich sein, sind sich die früheren Kriegsgegner einig. Wie dieser Frieden erreicht werden könnte, das beschäftigt die Rotarier in aller Welt. Zahlreiche Aufsätze in der Zeitschrift The Rotarian dieser Jahre, die sich mit Ideen und Konzepten zur internationalen Zusammenarbeit beschäftigen, fordern vor dem Hintergrund der harten Auseinandersetzungen um die Begleichung der deutschen Kriegsschulden Entgegenkommen statt Konfrontation.
Dabei ging es nicht einfach um Völkerverständigung, die schon damals eines von Rotarys erklärten Zielen war. Entscheidend war, wie A. W. Beaven im Februar 1923 in seinem Aufsatz „The Rotary Spirit and the World Crisis“ schreibt, dass Krieg nur die grausamste Form jenes allgemeinen Egoismus sei, den Rotary vor allem im Geschäftsleben, aber eben nicht nur dort bekämpfen müsse.
Das ist die Ausgangslage, als 1926 im Berliner Außenministerium der Aktenordner angelegt wird. Aufgetaucht ist er übrigens bei einem Besuch des Rotary Clubs Berlin-Unter den Linden, der es sich zum Programm gemacht hat, die Institutionen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft kennenzulernen. Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes wurde den Gästen der Rotary-Ordner vorgestellt.
Auf Vermittlung von Altpräsident Hans-Günter Zeger ließ das Amt Kopien der Dokumente zur Auswertung durch das Rotary Magazin anfertigen.
Unwissen und Skepsis Der Ordner enthält eine Sammlung von Stellungnahmen und Einschätzungen, die in den Jahren 1926 bis 1928 von Botschafts- und Konsulatsmitarbeitern in aller Welt eingegangen sind. Dazu Aktenvermerke, Zeitungsausschnitte, ganze Ausgaben der Zeitschrift The Rotarian und andere Rotary-Dokumente. Die Sammlung lässt eine tiefgreifende Ratlosigkeit gegenüber dem unbekannten Phänomen des Serviceclubs erkennen: Warum erlauben sich ganz normale Bürger, sich weltweit zur Verfolgung gemeinnütziger Ziele zusammenzuschließen (1926 übrigens bereits in sechsstelliger Stärke und in über 40 Ländern)?
Ratlosigkeit und Unwissen, durchaus auch gepaart mit Herablassung, spricht aus den Vermerken, etwa wenn Legationsrat Herrmann Davidsen, zuständiger Referent für USA/Wirtschaftsthemen in der Abteilung III A, über Rotary festhält: „Der im allgemeinen harmlosen Institution kommt eine herausragende Bedeutung nicht zu und die einzelnen Mitglieder ragen außer in ihren eigenen Augen kaum über das Mittelmaß hervor. Dennoch kann der Einfluss einer solchen Organisation durch einzelne kluge und energische Führer unter Umständen in lokalen und nationalen Fragen für oder gegen eine Bewegung in die Waagschale geworfen werden.“ Anlass für die Beamten, einen eigenen Rotary-Ordner anzulegen, war eine Nachricht aus Norwegen: Dort hatten sich Anfang September 1926 die Rotary Clubs einstimmig beim Zentralvorstand in Chicago dafür eingesetzt, Deutschland in die rotarische Bewegung aufzunehmen.
Davidsen nimmt den Hinweis der Gesandtschaft in Oslo zum Anlass, die deutsche Botschaft in Washington zu bitten, „über Zusammensetzung, Ziele und Bedeutung dieser Organisation sowie über das bei der Aufnahme neuer Mitglieder beobachtete Verfahren zu berichten, ferner sich zu der Frage zu äußern, welche Haltung deutscherseits bei einer eventuellen Aufforderung zum Beitritt beziehungsweise zur Gründung von Rotary Clubs einzunehmen sein würde“.
Ohne „Pomp und Geheimnistuerei“ Das Generalkonsulat in Chicago antwortet mit einer ausführlichen Beschreibung der Gründungsgeschichte Rotarys und seiner Regularien und hält als Besonderheit fest, die Rotarier unterschieden sich „von den ihnen verwandten Organisationen, wie den Freimaurern und ähnlichen in Amerika besonders zahlreichen Vereinigungen (Lions, Kiwanis)“ durch die „Ablehnung von äußerem Pomp und Geheimnistuerei“ sowie durch den Grundsatz, dass immer nur ein Vertreter eines Berufs Mitglied des Clubs sein dürfe.
Interessanter sind die Auskünfte, die das Konsulat von Rotarys Generalsekretär Chesley R. Perry direkt einholt: Eine Clubgründung in Deutschland sei zurzeit nicht vorgesehen. Zur Begründung habe Perry erläutert, dass man bisher noch keine Gelegenheit gehabt habe, die Verhältnisse in Nachkriegsdeutschland eingehend zu prüfen. Rotary müsse dabei angesichts der „besonderen Wichtigkeit Deutschlands“ äußerst sorgfältig vorgehen, um einen eventuellen Fehlschlag zu vermeiden. Für den Fall, dass man sich zur Gründung entschließe, rechne er mit einer Dynamik wie in Großbritannien von 200 bis 300 Clubs. Es folgt eine Vermutung des Berichterstatters, dass die wahren Motive für die Zurückhaltung woanders liegen dürften: „Die amerikanischen Clubs haben während des Krieges trotz aller statutenmäßig festgelegten versöhnlichen Einstellung eine ausgesprochen chauvinistische Einstellung eingenommen. Herr Perry macht gleichfalls bei aller konzilianten äußeren Form nicht gerade den Eindruck besonderer Deutschfreundlichkeit.“
Und auch hier wieder der Hinweis, dass Rotary überschätzt werde: „Sieht man von der typisch amerikanisch-englischen Phrasenhaftigkeit der Statuten ab, so machen die Rotary Clubs eher den Eindruck bloßer Zweckvereinigungen zur gegenseitigen Förderung der geschäftlichen Interessen ihrer Mitglieder.“ Und das auch noch auf eher unterer Ebene.
Fazit des Berichts: Rotary sei unbedeutend und daher unbedenklich, eine Clubgründung allerdings „im Interesse der Herstellung eines zusätzlichen internationalen Kontakts vielleicht zu begrüßen“.
Aktivitäten von RI Tatsächlich aber war man bei Rotary International schon weiter als die Diplomaten in Berlin ahnten. Hinter den Kulissen war „Deutschland“ längst ein Thema, seit 1921 der US-Amerikaner Malcolm Sumner erste Kontakte vermitteln wollte. Während Berlin erst wieder aufhorcht, als man erfährt, dass auf der Rotary Convention 1927 im belgischen Ostende doch über die Ausbreitung nach Deutschland entschieden werden könnte, sprach man auf den höheren Ebenen bereits über den Mann, dem dabei die Führungsrolle zufallen sollte: den ehemaligen Reichskanzler und seinerzeitigen Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie (HAPAG), Wilhelm Cuno. Der 51-jährige Jurist, ein Reeder mit weitläufigen internationalen Beziehungen, war bei einem Geschäftstermin in der Handelskammer von Oakland, Kalifornien mit Rotary in Kontakt gekommen und hatte Interesse an einer Clubgründung in Hamburg signalisiert. Da RI-Präsident Harry H. Rogers (USA) sich bereits für Deutschland erklärt hatte, wurde in Ostende nunmehr ganz offiziell ein „German Extension Advisory Committee“ eingerichtet. Rotary International wollte diese bahnbrechende Aufbauarbeit nicht einem Patenclub oder einem Distrikt überlassen, sondern selbst Regie führen.
Entsprechend sorgfältig wurden die Mitglieder des Committees ausgesucht: Acht Rotarier, jeweils aus einem Nachbarland Deutschlands, sowie der Leiter des RI-Büros Zürich, Fred Warren Teele, sollten unter Führung von Thomas Christian Thomsen (Aarhus/Dänemark) Namen von Persönlichkeiten sammeln, die für einen Club in Hamburg infrage kämen. 134 Namen verzeichnete schließlich eine Liste, aus der das Committee 33 Gründungsmitglieder auswählte. Die Charterfeier des RC Hamburg fand in Anwesenheit von RI-Präsident Arthur H. Sapp am 8. Oktober 1927 statt.
Davon jedoch bekamen die Beamten im Berliner Auswärtigen Amt nichts mit. Noch am 23. Dezember, über zwei Monate später, „ist über die Angelegenheit hier bisher nichts bekannt geworden“, schreibt Referent Davidsen. Eine Notiz der Berliner Börsen-Zeitung vom 8. Dezember über ein Festdinner von Rotary-Führung und diplomatischem Corps in Washington hatte ihn auf die Spur gebracht, denn dort hatte RI-Präsident Sapp verkündet, dass die Gründung des RC Hamburg das bedeutendste Ereignis des zu Ende gehenden Jahres gewesen sei.
Nun will Davidsen mehr wissen, bittet die Senatskommission der Hansestadt um nähere Auskünfte, lässt sich die Statuten des Clubs schicken und versucht über die Hamburger Zweigstelle für Außenhandel des Amtes herauszufinden, wer Mitglied ist und welche Tätigkeiten der Club bisher unternommen habe.
Ganz ähnlich wird er kurze Zeit später in Frankfurt/Main vorgehen, nachdem er von den dortigen Clubgründungen erfahren hat. Ausdrücklich betont Davidsen, dass man kein Interesse habe, sich in die Clubs einzumischen. Neugierig sei man allerdings schon, „ob und in welcher Beziehung sich die unter den Mitgliedern genannten deutschen Wirtschaftsführer aus dieser Einbeziehung Deutschlands in die internationale Rotarier-Bewegung wirtschaftliche oder sonstige Vorteile für Deutschland versprechen“.
Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.