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Rotary Entscheider

„Jeder hat das Recht auf Bildung“

Rotary Entscheider - „Jeder hat das Recht auf Bildung“
Maike Röttger im Flüchtlingslager ­Nyabiheke in Ruanda, in dem mehr als 14.000 kongolesische Flüchtlinge leben. Plan International hat dort sichere ­Bereiche für Mädchen eingerichtet © Plan International - Hartmut Schwarzbach

Als Journalistin berichtete sie über Kinder in schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen. Dann wechselte Maike Röttger die Seiten und kämpft nun als Chefin des Kinderhilfswerks Plan International Deutschland für die Rechte von Kindern weltweit

Anne Klesse01.07.2017

In den hellen, verglasten Büros von Plan International Deutschland in Hamburg-Barmbek wird konzentriert gearbeitet. Die Tür zum Arbeitsplatz der Vorsitzenden der Geschäftsführung steht offen und ist aufgeräumt, aber nicht steril. Im Gegenteil, hier hat sich jemand eingerichtet, der gern Dinge mit persönlicher Bedeutung um sich hat. 

Die Bücher neben ihrem Bildschirm werden von holzgeschnitzten Elefanten gestützt, auf der Fensterbank stehen afrikanische Frauenskulpturen, auf dem Sideboard neben einem Globus weitere Andenken aus fernen Ländern. Maike Röttger nimmt einen aus bunten Bändern geflochtenen Kopfschmuck, das Geschenk einer ehemaligen Haussklavin einer Familie in Nepal, die sich nun gegen die barbarische Sitte in ihrer Heimat engagiert. Röttger kann zu jedem Gegenstand eine Geschichte erzählen, sie spricht ruhig und sachlich.

Frau Röttger, Sie waren Journalistin, wechselten 2010 die Fronten und wurden von der Beobachterin zur Aktivistin. Bauch- oder Kopfentscheidung?
Ich wollte damals eine inhaltliche Ver­änderung und Führungsverantwortung. Zunächst bin ich als Leiterin der Kommu­nikationsabteilung zu Plan International Deutschland gekommen, zwei Monate später wurde ich neue Geschäftsführerin. Inzwischen bin ich für mehr als 150 Mitarbeiter und 160 Millionen Euro Spendengelder verantwortlich. 

Der Schritt war also ein großer und nicht so geplant. Aber mir war klar, dass manche Fragen im Leben nur einmal gestellt werden. Ich habe mich mit meiner Familie besprochen und war mir schließlich sicher: Das ist genau das, was ich machen möchte. Da sich eine solche ­Aufgabe nie abschließend einschätzen lässt, war es am Ende definitiv eine ­Bauchentscheidung. 

Wann sind Sie zum ersten Mal bewusst mit dem Thema Kinderrechte in Berüh­rung gekommen?
Das war in den 1990er Jahren, als in Hamburg sogenannte Crash-Kids Furore machten, Jugendliche aus oft problematischen Verhältnissen, die in Serie Autos auf­bra­chen und zu Schrott fuhren. Als Redakteu­­rin des Hamburger Abendblattes besuchte ich ein erlebnispädagogisches Resozia­lisierungsprojekt dieser Kinder in Finnland. Anfangs war ich skeptisch, viele fragten sich, ob die da quasi Urlaub auf Staatskosten machen. Aber vor Ort habe ich erkannt, dass diese Kinder zum ersten Mal Zuneigung und Verantwortung erfahren und den Wert von Bildung wahrnahmen. Das war eine Art Schlüsselerlebnis für mich. 

Wie denken Sie heute, nachdem Sie die ganze Welt bereist haben, daran zurück? Lässt sich Armut vergleichen?
Wäre ich heute noch mal in der Situation von damals, würde es mich vielleicht ­sogar noch mehr berühren. Damals habe ich mich vor allem gefragt: Wann sind aus fröhlichen, neugierigen Kindern Autos klauende Jugendliche ohne Perspektive geworden? Wie ist das passiert? Armut zu kategorisieren und zu sagen „Kinder in Hamburg haben immerhin ein Dach über dem Kopf und müssen nicht verhungern, also sind Kinder in Afrika ärmer als in Deutschland“, das finde ich schwierig. Kinder haben Rechte. Die UN-Kinderrechtskonvention regelt das klar: Kinder haben das Recht, in Sicherheit und ohne Diskriminierung aufzuwachsen, sie haben das Recht auf Zugang zu sauberem Trink­wasser, Nahrung, medizinischer Versorgung, Bildung und das Recht auf Mitsprache. Wo auch immer ich im Rahmen meiner Arbeit hinkomme, stelle ich mir die Frage: Sind diese Rechte gewahrt? Die Antwort lautet immer nur „Ja“ oder „Nein“. Ich würde da kein Ranking aufstellen wollen. 

Plan International finanziert Projekte der Entwicklungszusammenarbeit weltweit vor allem über Patenschaften. Wie funktioniert das?
Unser Ziel ist die nachhaltige Gemeindeentwicklung. Dafür setzen wir uns vor Ort mit den Gemeindemitgliedern – alten und jungen, auch den Kindern – zusammen und entwickeln Maßnahmen. Die Kinder stehen dabei im Mittelpunkt. Wir möchten Menschen in die Lage versetzen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie darin bestärken, ihre Rechte einzufordern. Wir haben weltweit acht Arbeits­bereiche für uns definiert: Bildung und Ausbildung, Kinderschutz, Wasser/Hy­gie­ne und Umwelt, Gesundheit, Sexuelle Gesundheit, Einkommenssicherung, Teilhabe von Kindern sowie Katastrophenvorsorge und Nothilfe. In jedem Bereich ist es unser Ziel, eine dauerhafte Verbesserung der Lebensbedingungen zu erreichen. Es wäre einfach, Schulen irgendwo hinzubauen. Schwierig ist es, sie mit ­Leben zu füllen. Wir sorgen dafür, dass Jungen und Mädchen zum Unterricht gehen. Dafür muss es Lehrer geben, Bücher, einen sicheren Schulweg, saubere und nach Geschlechtern getrennte Toiletten, Mittagessen usw. 

Sie brauchen also einen langen Atem ...
Das ist so. Unsere Projekte sind langfristig angelegt. Sie brauchen Zeit. Infrastrukturell, aber auch in den Köpfen der Menschen muss sich vieles ändern. Wir haben den Vorteil, dass wir nicht, wie andere Organisationen in der Entwicklungs­zusammenarbeit, von Dreijahresplänen abhängig sind. Wir sind zum Teil seit Jahrzehnten in den Gemeinden, haben einheimische Mitarbeiter vor Ort, Lager für Hilfsmittel. So konnten wir in der Vergangenheit auch gut auf Katastrophenfälle wie das Erdbeben in Nepal oder den Taifun auf den Philippinen ­reagieren. 

Was bedeutet es für Organisationen wie Plan International, wenn traditionell starke Geldgeber wie die USA, wie kürzlich angekündigt, ihre Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit massiv kürzen?
Diese Welt ist global. Die OECD-Staaten haben sich in den 1970er Jahren das Ziel gesetzt, jedes Jahr 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben. Aber seither halten viele dieses Ziel nicht ein, im Durchschnitt wenden die G7-Länder 0,27 Prozent auf. Die USA waren zwar bislang der größte Geldgeber, ihre Quote lag aber 2015 bei gerade mal 0,17 Prozent. Wenn gleichzeitig die Mittel für die Aufrüstung angehoben werden, fehlt mir das Verständnis. Deutschland erreichte 2016 die 0,7 Prozent übrigens erstmals nur deshalb, da die Kosten für die Versorgung und ­Unterkunft der hier lebenden Flüchtlinge eingerechnet wurden. Gelder für die Entwicklungszusammenarbeit sind immer auch Ausgaben, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Menschen kommen hierher, weil sie sich für ihre Kinder Bildung wünschen, ein Leben in Sicherheit. Da müsste doch massiv investiert werden. 

Sie selbst sind Mutter eines mittlerweile 20-jährigen Sohnes. Hat sich in Ihrer Erziehung etwas verändert seit Sie sich beruflich mit den Schicksalen von Kindern weltweit beschäftigen?
Ich frage meinen Sohn Moritz seither häu­figer: Was wünschst du dir, wie möchtest du deinen Alltag, dein Leben gestalten? Kinder haben unglaubliches Potenzial, sie wissen schon in jungem Alter sehr genau, was sie wollen. Bei meiner Arbeit sehe ich, wie sehr manche Kinder kämpfen müssen, um zur Schule gehen zu dürfen. Jedes einzelne Schicksal rüttelt mich immer wieder auf. Weltweit wachsen Kinder unter Umständen auf, die für mich früher unvorstellbar waren. Auf das Maß an Gewalt, das vor allem Mädchen ertragen müssen, war ich nicht ­vorbereitet. 

Sie besuchen mindestens zweimal im Jahr Plan-Projekte vor Ort. Was war der schönste Moment auf Ihren Reisen?
Die persönlichen Begegnungen mit meinen eigenen Plan-Patenkindern. Mit meiner Familie habe ich in jeder Region, in der Plan International aktiv ist, ein Paten­kind: in Ägypten, Äthiopien, Kolumbien und Timor Leste. Hier im Büro habe ich ein Foto von mir mit Kalkinda hängen, meiner äthiopischen Patentochter, die ich 2015 besucht habe. Ich saß bei ihr zu Hause und wir haben gespielt. Das war ein sehr berührender Moment. 

Und Ihr schlimmstes Erlebnis?
Ebenfalls in Äthiopien. 2016 waren wir mit einer Delegation ganz im Norden
des Landes unterwegs. Es hatte dort seit drei Jahren nicht geregnet, die Gegend, der Boden war wie abgestorben. In einem Krankenhaus habe ich Säuglinge gesehen, die fast verhungert waren, deren Mütter nicht genug Milch hatten, um zu stillen, keine Ersatznahrung. Ein Zweijähriger, der noch nie in seinem Leben gelaufen ist, weil er zu schwach dafür war – diese Bilder werde ich nie vergessen. 

War es der Gedanke zu helfen, der Sie auch zu Rotary geführt hat?
Absolut. Und auch, ein starkes Netzwerk mitzugestalten. Bei Rotary ist unser Haupt­anliegen das Engagement gegen Polio. Es ist fantastisch, wie weltweit ­Anstrengungen unternommen werden, um diese Krankheit zu besiegen. Ich bin in einigen weiteren Gremien aktiv.  

Es ist wichtig, zusammenzuarbeiten, um etwas zu verändern. Auch deshalb schätze ich den Austausch in meinem Club. Ich werde dort oft nach meinen Reisen gefragt, berichte von Erfahrungen – nun hat der Club sogar eine Plan-Patenschaft in Simbabwe übernommen.