Rotary Entscheider
„Kind des demokratischen Aufbruchs“
Normalerweise geht es für Universitäts-Präsident Dieter Lenzen stets „vorwärts“. Zum 100. Geburtstag seiner Hochschule wagt er den Blick zurück
Im obersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes der Universität herrscht geschäftiges Treiben. Die Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen der Hochschule stehen an, außerdem ist rund um das Förderprogramm der sogenannten Exzellenzstrategie, mit der Bund und Länder einzelne Forschungsfelder und Unis („Exzellenzcluster“) stärken wollen, einiges zu tun. Der Blick vom Büro des Präsidenten der Universität Hamburg Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Lenzen reicht fast bis zur nahen Außenalster. Der Schreibtisch ist aufgeräumt. Während seiner Ministeriumszeit habe er gelernt: „Der Schreibtisch muss abends leer sein – weil man die Arbeit weitergegeben hat.“ Er lacht. Über den vielen Fenstern rahmen die Jahreslosungen den Raum ein. Jedes Jahr suche er ein Zitat aus, das einen Ideenraum für das Kollegium eröffnen soll. Für 2019 ist das: „Unicum iter ad supremum.“ Lenzen zeigt auf die Abbildung eines Fisches im Regal neben der Sofaecke: „In 11.000 Metern Tiefe gefangen, von unseren Zoologen untersucht und aus Anlass meines 70. Geburtstages im vorletzten Jahr nach mir benannt!“ Ein Fisch namens Lenzen. Auch eine Heuschrecke und eine Rose tragen seinen Namen. Der kaputte Schiffspropeller seines früheren Bootes („Bei einer Rückwärtsfahrt auf eine Böschung ruiniert“) – für ihn ein Symbol für alle Lebenslagen: „Niemals rückwärtsfahren!“
Die Universität Hamburg feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen. Der neue, erstmals demokratisch gewählte Hamburger Senat hatte am 28. März 1919 den Beschluss über ihre Gründung gefasst, im Mai 1919 wurde sie eröffnet. In welchem Geist ist die Hochschule entstanden?
Es gab damals eine ganze Reihe von akademischen Einrichtungen, die sehr stark dem Nützlichkeitsgesichtspunkt entsprachen. Kaufleute in der Hafenstadt Hamburg wollten Experten, die Fremdsprachen beherrschten, sich mit Tropenkrankheiten und der Kultur der Handels partner auskannten. Philosophen, Theologen und andere Geisteswissenschaftler brauchten sie ihrer Ansicht nach nicht. Das war rein ökonomisch und deshalb kurzsichtig. Nach etlichen erfolglosen Bemühungen gab es nach der Revolution von 1918 dann eine Mehrheit der Sozialdemokraten, die es auch als Aufgabe der Volksbildung wahrnahmen, eine Universität zu gründen. Die Universität Hamburg ist ein Kind des demokratischen Aufbruchs in Deutschland.
Kürzlich schafften es vier Forschungsfelder der Universität Hamburg unter die von einer internationalen Expertenkommission ausgewählten 57 Exzellenzcluster bundesweit und werden nun finanziell gefördert. Aktuell läuft der zweite Teil des Bewerbungsverfahrens um den Titel der Exzellenzuniversität. Um den Wissenschaftsstandort Hamburg scheint es ganz gut zu stehen?
Wir gehören, bezogen auf die Studierendenzahl, zu den drei größten Universitäten Deutschlands. Hamburg ist Teil der „German U15“, eines Verbundes der 15 forschungsstärksten Universitäten Deutschlands. Wir sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das war nicht immer so, obwohl hier bekannte Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt oder Wolfgang Schäuble, der Philosoph Ernst Cassirer, der Kunsthistoriker Erwin Panowsky, der Jurist Albrecht Mendelssohn Bartholdy, fast alle Hamburger Bürgermeister und mehrere Nobelpreisträger studiert und/oder gelehrt haben. Während man vor 100 Jahren noch stark an den Gelehrten orientiert war, steht heute Kooperation im Vordergrund. In diesem Feld sind wir sehr erfolgreich, inmitten der zahlreichen wissenschaftlichen Einrichtungen der Metropolregion Hamburg Die Universität Hamburg war immer eng verknüpft mit epochalen Ereignissen. Während der Nazizeit wurde leider eifrig mitgemacht bei sogenannten Säuberungsaktionen. 1968 stand die Hochschule neben der FU Berlin, Bremen und Frankfurt im Mittelpunkt der Studentenbewegung. Das berühmte Transparent „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ werden wir in einer Jubiläumsausstellung zeigen. Anders als in anderen Großstädten ist in Hamburg die Verbindung der Bürger zu ihren Einrichtungen ein sehr wichtiges politisches Element. Nehmen die Bürger ein Opernhaus, ein Museum oder eine Universität an, dann tun sie auch viel dafür. Mittlerweile ist die Stadt stolz auf uns. Die Politik bekennt sich zum Wissenschaftsstandort Hamburg und investiert. Man muss Hamburg heute in einem Atemzug mit München und Berlin nennen.
Kritiker sprechen allerdings von „Förderanträge-Wahnsinn“, fürchten, dass die Lehre leidet: Exzellenz könne nicht „verordnet“ werden. Was sagen Sie dazu?
Das ist völliger Quatsch. Im Gegenteil, als ausgezeichnete Exzellenzuniversität haben Universitäten die Chance, Spitzenwissenschaftler zu gewinnen, die bei ihnen lehren. Richtig ist, was ein berühmter französischer Philosoph einmal als „Projektkapitalismus“ beschrieben hat: Unsere westlichen Gesellschaften neigen dazu, alles zu Projekten zu machen – die Ehe, den Urlaub, das Hobby. Zum Teil betrifft das auch die Forschung.
Das Bildungssystem hat sich stark verändert. Eine immer wieder bemühte Kritik lautet, Abiturienten verließen heute nicht so gut ausgebildet die Schule wie frühere Generationen. Teilen Sie diesen Eindruck? Das ist eine schiefe Wahrnehmung. Das Spektrum reicht von hochqualifizierten Abiturienten bis hin zu Menschen, die überhaupt nicht schulisch auf ein Studium vorbereitet wurden. Ein erheblicher Teil unserer Studierenden hat überhaupt keine allgemeine deutsche Hochschulreife. Bei der Qualität des Abiturs gibt es ein unglaubliches Gefälle innerhalb Deutschlands: Jemand aus Baden-Württemberg mit halbwegs guten Noten ist im Studiengang BWL unmittelbar studierfähig, während Schulabgänger aus Berlin häufig starken Nachholbedarf haben. Dann kann die Qualifikationsdifferenz, wie Pisa gezeigt hat, zum Teil zwei ganze Lernjahre betragen! Um diese Heterogenität aufzufangen, haben wir vor einigen Jahren das Universitätskolleg unter anderem mit Grundkursen zu Mathematik, Fremdsprachen gegründet.
Hat diese „Heterogenität“ damit zu tun, dass Schüler je nach Bundesland und Schulform nach zwölf, zwölfeinhalb oder 13 Schuljahren Abitur machen?
Mit G8 oder G9 hat das interessanterweise nichts zu tun. Unsere Untersuchungen zeigen ganz deutlich, dass die Zahl der Schuljahre keinen Einfluss auf die Studierfähigkeit hat. G8 war ja verbunden mit der Einführung der Ganztagsschule. Das funktioniert natürlich nur, wenn Lehrkräfte nicht mittags nach Hause gehen. Der Nachmittag muss – wie an Schulen weltweit – Lernnachmittag sein. Dass dieser Wechsel nicht überall geklappt hat, hängt mit der föderalen Struktur unseres Bildungssystems zusammen. Bundesländer, die seit jeher stark in Bildung investieren wie Bayern, hatten weniger Probleme. In Bezug auf die Hochschulabschlüsse hat Deutschland die Bologna-Vereinbarung so gelesen, dass der Bachelor nach sechs Semestern als Normalfall definiert wird. Das ist problematisch. Die Bevölkerung glaubt, ihre Kinder hätten in drei Jahren einen akademischen Abschluss. Dabei ist dieser nicht mehr wert als eine Assistentenausbildung. Das britische System, an dem sich Bologna orientiert, ist nur deswegen sinnvoll, weil es dort keine Berufsausbildung gibt. Die Möglichkeit, achtsemestrige Bachelorstudiengänge einzuführen, wurde damals nicht genutzt. Da ist Deutschland in Europa ein Sonderfall. Auch Masterstudienplätze werden hier nicht ausreichend zur Verfügung gestellt. Man hat also vom einen Extrem ins andere gewechselt. Waren die Hochschulabsolventinnen und -absolventen früher zum Teil im vierten Lebensjahrzehnt, bewerben sich heute 19-Jährige mit dem Bachelor auf eine Stelle. Das ist absurd. Das wollen auch die Unternehmen nicht.
Teile der Gesellschaft zweifeln an Forschungsergebnissen, etwa zum Klimawandel. Gibt es ein Problem bei der Vermittlung von Wissenschaft?
Es gibt ein Problem mit denen, die zweifeln. Der Klimawandel ist ein leicht durchschaubares Beispiel dafür, dass einem Ergebnisse nicht passen und die Konsequenzen nicht gezogen werden mögen. Gegen den Klimawandel vorzugehen – sofern das überhaupt noch möglich ist – kostet sehr viel Geld, das dann nicht für andere Dinge ausgegeben werden kann. Eine Vermittlungsfrage ist das eher nicht. Es wurde ja über nichts so viel geredet wie über den Klima wandel. Als Universität sind wir ein Ort der Grundlagenforschung, wollen aber trotzdem unsere Forschungsergebnisse der breiten Gesellschaft vermitteln. Wir bieten Beratung an, arbeiten mit Theatern und Medien, veranstalten Podiumsdiskussionen. Ich selbst engagiere mich in Talkshowformaten wie „Wahnsinn trifft Methode“, in denen wir ganz unterschiedliche Themen behandeln. Wissenschaft muss verständlich, Wissenschaftler nahbar sein. Wissenschaft kann Spaß machen! (Dazu-)Lernen macht Spaß!
Was haben Sie zuletzt neu erlernt?
Man merkt ja nicht, was man am Tag so alles lernt. Man sollte offen bleiben. Rotary ist ein gutes Beispiel dafür.
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