Porträt
Vom Reisenden zum Helfer
Um Menschen in Syrien zu unterstützen, knüpfte Karsten Malige ein länderübergreifendes Netzwerk.
Zur Person
Karsten Malige (RC Rastatt-Baden-Baden), Vorsitzender des Vereins SyrienHilfe e. V. Sein seit 50 Jahren bestehendes Ingenieurbüro bietet u. a. Entwurfs-, Bau- und Ingenieurvermessung, ist aber auch bei archäologischen Ausgrabungen tätig.
Fast täglich greift Karsten Malige zum Telefon, ruft seine Kontakte in Syrien an oder tauscht Textnachrichten mit ihnen aus. Denn zwischen den Fronten leben noch immer Menschen. In Flüchtlingslagern, in zerbombten Häusern. Menschen, die Karsten Malige persönlich kennt. „Da passieren so viele Dinge, die mir fast schon körperliche Schmerzen bereiten“, sagt er und fährt sich über das Gesicht, als könne er diese Schmerzen wegwischen.
Aber was nützt es zu grübeln? „Balsam auf diese Schmerzen ist lediglich die Hilfe, die wir leisten dürfen.“ Der 48-Jährige ist Gründer und Vorsitzender des Vereins SyrienHilfe e. V., der in der Krisenregion Carepakete und warme Mahlzeiten verteilt, Therapiemöglichkeiten anbietet und Hilfe zur Selbsthilfe gibt. Begonnen hat alles mit Maliges Liebe zu der Region.
In zweiter Generation leitet er ein Vermessungsbüro im baden-württembergischen Muggensturm. Schon als Kind begleitete er seinen Vater mehrfach zu Bauprojekten nach Libyen. „Dort habe ich Datteln vom Baum gepflückt, Granatäpfel und Kaktusfeigen geerntet.“ Eindrücke, die sich eingebrannt haben. „Die es mir leicht gemacht haben, Syrien ins Herz zu schließen.“
Sechs Wochen in der Wüste
1997 besuchte er zum ersten Mal Damaskus. Während seines Ingenieurstudiums half Malige bei einer Ausgrabung byzantinischer Stätten. „Auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt habe ich die Scheiben heruntergekurbelt, die Luft eingeatmet und mich sofort wohlgefühlt.“ Sechs Wochen arbeitete er in der Wüste. Danach kam er immer wieder – zu Ausgrabungen, aber auch für private Reisen.
Malige kennt die unterschiedlichen Regionen, Damaskus, Homs, Aleppo, Latakia, UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten wie Krak des Chevaliers. Er schloss Freundschaften. Zum letzten Mal war er 2010 dort. Ostern 2011 wollte er mit seiner Frau und den vier Kindern wiederkommen. Er stornierte alles, die Situation im Land war zu gefährlich. Hilflos abwarten jedoch ist nicht Maliges Ding. Nachdem die ersten Bomben auf Damaskus fielen, wusste er, was zu tun war: Freunde vor Ort halfen bereits ausgebombten Familien mit Lebensmitteln, Medikamenten, Kleidung und Wohnraum. Malige sammelte bei Freunden und Bekannten in Deutschland Geld, bis Oktober 2012 kamen 10.000 Euro zusammen. Ein gutes Gefühl sei das gewesen, „eine Befreiung“. Er halte es mit Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“
Ein Benefizkonzert zum Start
Mit einem befreundeten Musiker organisierte er ein Benefizkonzert. Weil sie dafür einen Veranstalter benötigten, gründete Malige kurzerhand die SyrienHilfe. Vier Tage vor dem Konzert erfolgte die Eintragung ins Vereinsregister – am 12.12.2012. Die Spendenkontonummer erinnert an das Gründungsdatum.
Mehrere Hundert Familien werden seither monatlich mit dem Nötigsten versorgt, Projekte vor Ort unterstützt. „Das ist auch seelische Nahrung, für die Menschen ist es wichtig zu wissen: Wir werden nicht vergessen“, weiß Malige. Der Verein gibt Hilfe zur Selbsthilfe, baute eine Geflügelzucht und Gemüsefarm auf, bildet Schneiderinnen aus, unterstützt Manufakturen, in denen Zelte für die Lager gefertigt werden.
Im Winter 2014/2015 wurde ein Zentrum für „Menschen mit Spezialbedürfnissen“ aufgebaut – inklusive einer Werkstatt für Orthopädiebedarf, Physiotherapie, Schuhmacherei, Spielplatz und Kita. Nach Bombenangriffen musste es jedoch geschlossen werden und wurde 2017 vom Kernteam in Istanbul wieder aufgebaut. „Die Hilfe muss jetzt auch in den Grenzländern weitergehen“, so Malige. Nach wie vor arbeitet er ausschließlich mit Bekannten, ohne Subunternehmer oder fremde Helfer. „So versickert kein Geld, alles kommt dort an, wo es benötigt wird.“ Zu den Unterstützern zählen große Unternehmen und Stiftungen. Der Verein konnte mittlerweile zwei Stellen schaffen. Zwei aus Syrien geflohene Mitarbeiter kümmern sich um die Dokumentation der Projekte und Anträge.
Vater, Unternehmer, Vorsitzender
Wie er das alles „so nebenbei“ schaffe, als Vater und Unternehmensinhaber mit vier Angestellten? „Wenn ich etwas mache, dann richtig“, sagt Malige. „Mein Ehrenamt kostet mich Zeit und Kraft, gibt mir aber auch sehr viel.“ Als Optimist sei für ihn stets „das Glas halb voll“. Die einzelnen Schicksale jedoch gehen ihm bis heute nah. „Man muss auf sich aufpassen, sonst verbrennt man irgendwann.“ Das Schlimmste an den täglichen Horrormeldungen sei zu wissen, „dass das Land, das ich kennen- und lieben gelernt habe, nie wieder so sein wird, wie es war.“ Wenn er in Istanbul ist, meidet er den Großen Basar – der erinnere ihn zu sehr an den Suq in Aleppo, der nun kaputt ist. „Diese Arbeit erdet, sie lässt mich Demut spüren.“
Beinahe hätte er seine soziale Ader zum Beruf gemacht. Zunächst studierte er Sonderschulpädagogik, arbeitete mit Menschen mit Behinderungen. Als Vermessungsingenieur ist er nun stattdessen im Straßen- und Brückenbau und für die Industrie tätig. In diesem Jahr feiert sein Betrieb 50-jähriges Bestehen. Nur als Selbstständiger, sagt er, sei sein Engagement möglich. So könne er auch mal „zu besten Bürozeiten“ in Syrien anrufen.
Spenden und nähere Informationen: syrienhilfe.org
Weitere Artikel der Autorin
12/2020
„Wir versuchen, die Folgen der Pandemie abzumildern“
8/2020
Soziale Verantwortung und Qualität statt Fast Fashion
3/2020
Allgäuer mit krimineller Energie
7/2019
„Einfach nur bewahren wird nicht ausreichen“
6/2019
„Finanzwissen in Zeiten politischer Unsicherheiten enorm wichtig“
5/2019
Familienunternehmen wachsen nicht so schnell, schaffen aber Werte
4/2019
„Es geht um die Demokratisierung des Wissens“
3/2019
„Kind des demokratischen Aufbruchs“
2/2019
„Jeden Tag etwas dazulernen“
2/2019
„Streaming wird die Welt regieren“
Mehr zur Autorin