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90 Jahre Leben in Krieg und Frieden
Er war in allen drei Staatsgewalten tätig, verkehrte mit den wichstigsten Vertretern des Landes – zum 90. Geburtstag hat Jürgen Westphal seine Biografie geschrieben
Jürgen Westphal bittet zum Gespräch in die Bibliothek. Die gemütliche Sitzecke inmitten deckenhoher Bücherregale ist sein Rückzugsort. Hier liest der bald 90-Jährige, manchmal gemeinsam mit seiner Frau Daniela. Dr. Jürgen Westphal, studierter Jurist und Rechtsanwalt, war CDU-Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft, Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein und Verfassungsrichter in Hamburg. Er ist damit einer von wenigen, die sowohl in der Legislative als auch in Exekutive und Judikative tätig waren. Am 1. Dezember feiert er seinen 90. Geburtstag.
Richtig gefeiert wird er von seinen vier Kindern, drei Enkeln und engen Freunden allerdings erst am Wochenende darauf. Seinen Ehrentag selbst wird er, wie jedes Jahr, mit einer Spendenveranstaltung der Daniela und Jürgen Westphal Stiftung zur Förderung privater Universitäten begehen. Ein "interessanter, aber auch anstrengender Tag" werde das, er muss sich wohl zwischendurch ein wenig hinlegen. Denn außerdem ist er noch beim Wirtschaftsrat der CDU eingeladen, wo der neue schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther sprechen wird zum Thema "Jamaika in Schleswig-Holstein: Blaupause für den Bund?"
Ach, dieses "sogenannte" Jamaika, seufzt Jürgen Westphal. "Ich hoffe sehr, dass die Koalition sich zusammenrauft. Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung." Er sei immer ein Liberaler gewesen, zumindest in der Wirtschaftspolitik. "Es ist gut, wenn Gedankengut sowohl von den Grünen als auch von der FDP eine Rolle spielen", findet er. "Das sind alles Demokraten mit einer gemeinsamen Basis, die können zusammenarbeiten, wenn es darauf ankommt." Und jetzt komme es darauf an. Jürgen Westphal macht sich Sorgen um Europa.
In den 1950er Jahren war er mit einem Stipendium am Europäischen Kolleg im französischen Nancy. Das habe ihn zum "überzeugten Europäer" gemacht, sagt er. Die aktuellen Entwicklungen, der Brexit, die Populisten – das alles sei sehr bedenklich. Jürgen Westphal wurde 1927 geboren und wuchs mit vier Brüdern auf. Die Schwester starb mit einem Jahr an Keuchhusten und Lungenentzündung. 90 Jahre Leben bedeutet auch: eine Kindheit in Nazi-Deutschland, Krieg, Hunger, Gründung der EU, jahrzehntelang Frieden in Europa. Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen wie Jürgen Westphal. Nicht viele, die sich daran erinnern und davon erzählen mögen. Viele seiner Generation haben ihre Erlebnisse, Fragen und vielleicht auch Schuldgefühle tief in sich vergraben und später nicht einmal mit den eigenen Kindern und Enkeln darüber gesprochen. Er aber sei immer offen gewesen für solche Gespräche. Jürgen Westphal hat lebendige Bilder vor Augen, wenn er sein Leben Revue passieren lässt.
Sein Vater starb, als er acht Jahre alt war. Die Mutter sei konservativ-liberal im Sinne der Nationalliberalen Partei eingestellt gewesen und habe ihre Kinder Toleranz gegenüber anderen Meinungen gelehrt. Trotzdem machte sich das Gedankengut der Nationalsozialisten auch in ihrer Familie Platz. In seiner gerade veröffentlichten Biografie* schreibt Jürgen Westphal: "Wir Brüder und unsere Mitschüler waren auch im Äußerlichen mehr und mehr militärisch vorgeprägt, was insbesondere Haartracht und Haltung anging. Ich selbst gehörte seit 1938 als Pimpf dem deutschen Jungvolk, der Jugendorganisation der unter vierzehnjährigen Jungen an. Als Teil der HJ war dies die obligate staatliche Institution für Jungen dieses Alters."
Wie die Indoktrination der Gesellschaft Familien spaltete und mitunter zu absurden Situationen führte, beschreibt Westphal in folgendem Erlebnis: "Während eines Besuchs der Großmutter um 1939 wurde im Radio eine Rede Adolf Hitlers übertragen. Nach der Rede erhob sich meine Großmutter – und alle anderen Zuhörer schon aus Respekt ihr gegenüber auch –, streckte den Arm zum Hitlergruß aus und hielt ihn solange hoch, wie das Deutschlandlied und anschließend das Horst-Wessel-Lied im Radio übertragen wurde. Direkt danach stellte Henning einen englischen Sender mit Jazzmusik ein. Henning, der ältere Bruder, trug sein Haar lang und liebte Jazz."
Kindheit in Nazideutschland
Jürgen Westphal erinnert die Sirenen des Fliegeralarms, das Verdunkeln der Fenster. 1943, mit 15 Jahren, wurde er als Flakhelfer eingezogen. "Bilder des Schreckens" nach den Luftangriffen auf Hamburg: Die vollkommen zerstörten rauchenden Trümmerfelder, unter denen Tausende von Menschen tot lagen, die Ströme von Flüchtlingen, die, zum Teil mit zerfetzten Kleidern, ihre letzte Habe auf dem Rücken, einem Fahrrad oder auf einem Blockwagen aus der Stadt heraus schoben und irgendwo eine Notunterkunft suchten.
Der älteste Bruder, Vaterersatz für seine jüngeren Geschwister, starb 1944. Eines der prägendsten Erlebnisse seines Lebens, sagt Jürgen Westphal. "Mit einem anderen Bruder habe ich 50 Jahre später den Platz in Litauen aufgesucht, wo er bei der Rettung eines Verwundeten gefallen war." Es sei eine bewegende Reise auf der Suche nach der Seele des ältesten Bruders gewesen.
Die letzten Kriegsmonate verbrachte Jürgen Westphal in Wehrmachtsausbildung und dann drei Monate in Kriegsgefangenschaft auf der Halbinsel Eiderstedt. Von den Millionen Ermordeten, dem ganzen Ausmaß des Holocausts, habe er erst nach und nach erfahren. "Das Festhalten an der Naziideologie bröckelte dann allerdings bei den meisten und gerade auch bei mir sehr schnell." Dazu trugen auch die Nürnberger Prozesse bei, die er sehr intensiv verfolgt habe. "Man begriff eigentlich erst da, welche fürchterlichen Verbrechen begangen worden waren", sagt er rückblickend.
Interesse für Musik und Kunst
Außerdem habe sein Klassenlehrer dafür gesorgt, dass die Schüler sich mit der parlamentarischen Demokratie auseinandersetzten. Den drei Gewalten, denen Jürgen Westphal später dienen sollte. Auch die "Begegnung mit der modernen Kunst" habe den Prozess des Umdenkens bei ihm beschleunigt, ist er überzeugt. Kunst und Musik haben bis heute eine große Bedeutung für ihn. Seine Frau und er gehen gerne in Konzerte und Ausstellungen, er selbst spiele immer noch Klavier, eine der Töchter ist Musikerin geworden.
Auch die Kontakte und Freundschaften in seinem Rotary Club in Hamburg-Wandsbek, in dem er seit 1971 Mitglied ist, haben dazu geführt, "eine breitere Palette an Interessen miterleben zu können". Ob es Situationen gab, in denen er sich heute anders verhalten würde? Er denkt kurz nach. "Eine weitere politische Karriere nach meiner Rückkehr in meinen ursprünglichen Beruf habe ich abgelehnt – obwohl mich Helmut Kohl persönlich darum gebeten hatte." Jürgen Westphal blieb bei seinem Entschluss. "Mein Machtinstinkt ist nicht besonders stark ausgeprägt", sagt er. Aber bereuen? Das nicht.
Na ja, er winkt ab. Alte Zeiten. "Wer weiß, wie es mir sonst ergangen wäre? Nein, so, wie es war, war es gut." Und das gilt wohl für die gesamten zurückliegenden 90 Jahre Leben.
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