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Titelthema

Der Aufstand der blühenden Landschaften

Der Erfolg der AfD im Osten wurde nach der Wahl vorschnell als Protest der ewigen Wendeverlierer gewertet. Man kann ihn aber auch als Ausdruck eines veränderten Bewusstseins vor Ort lesen.

Johann Michael Möller01.11.2017

Immer wenn im Osten anders gewählt wird als im Westen, bricht die Diskussion wieder auf: ob die Menschen in den neuen Bundesländern überhaupt schon in der freiheitlichen Gesellschaft angekommen seien. Ob die Teilung und die Mauer in den Köpfen fortbestehe und man die Ostdeutschen schon für demokratie­fähig erklären könne. Das war 2005 so, als Edmund Stoiber die Undankbarkeit der Ossis anprangerte und das ist heute, ein Dutzend Jahre später, nicht besser geworden. Der Osten hat in dieser Wahrnehmung nicht anders, er hat falsch und undemokratisch gewählt. Doch das ist ein Trugschluss.
Die Abkehr von den klein gewordenen Volksparteien und der Zulauf zur rechtspopulistischen AfD ist in den neuen Ländern zwar weitaus deutlicher ausgefallen als in den alten, aber die Balkendia­gramme am Wahlabend täuschen darüber hinweg, wie sehr sich der Protest in Ostdeutschland inzwischen verändert hat. Das sind nicht mehr die Nachwehen einer untergegangen DDR, der Phantomschmerz amputierter Lebensläufe und die „Duldungsstarre“ frü­herer Jahre. Die AfD ist auch nicht die neue Partei der Wendeverlierer, wie es der bulga­rische Politikwissenschaftler Ivan Krastev unlängst in der New York Times wieder behauptet hat.
Der Wahlausgang im Osten ist eher Aus­druck eines gewachsenen Selbstbewusstseins und des Willens, endlich mitreden zu wollen. Das hat die gleich nach der Wahl einsetzende Suada der Erklärungsversuche leider verdeckt, wo schon wieder von Iden­titätskrise, Heimatlosigkeit oder „später Rache“ die Rede war. Dabei ging es bei dieser Wahl gar nicht mehr um die deprimierten und undankbaren Ossis, die für sich „Trost und Anerkennung“ suchen, wie die TAZ mitfühlend schrieb.

Ein neues Selbstbild
Wie sehr sich die politische Einstellung im Osten inzwischen verändert hat, und wie wenig sie noch an die „stumme Verweigerung der Anfangsjahre“ erinnert, kann man sich vielleicht am Beispiel des Südens klarmachen. Dass ausgerechnet die reichen und selbstbewussten Bundesländer Bayern oder auch Baden-Württemberg der Union einen solchen Dämpfer verpassten, macht deutlich, dass es sich bei diesem Wahlausgang um kein Phänomen der abgehängten Ränder Ostdeutschlands handelt. So ungewohnt das auf den ersten Blick auch erscheinen mag, Pegida und die AfD haben den neuen Ländern, wie Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung schreibt, „ein neues Selbstbild angeboten, das des wieder einmal besseren, weil pat­riotischen Deutschlands“.
Ein aktueller Blick ganz weit in den Süden nach Katalonien macht deutlich, dass politische Selbstbehauptungstendenzen heute offenbar weit mehr mit kulturel­len als mit ökonomischen Fragen zu tun haben. Katalonien scheint auf den ersten Blick kaum etwas mit Ostdeutschland zu verbinden, zumal es dort auch keinen Rechtspopulismus gibt. Hier eine reiche und selbstbewusste Region, die seit ­langem der wirtschaftliche Motor Spaniens ist. Dort der ehedem deindustrialisierte Osten Deutschlands, der immer noch am Tropf westlicher Zuwendungen hängt. So hat man regionale Sonderbestrebungen auch jahrzehntelang zu erklären versucht: als Konflikt zwischen prosperierenden Zentren und einer abgehängten Provinz. Der briti­sche Soziologe Michael Hechter hat dafür sogar den Begriff vom „inneren Kolonialismus“ geprägt. Die reichen Metropolen leben auf Kosten des Hinterlands. Dependenztheorie nannte man das früher. Doch diese Diagnose stimmt vielerorts nicht mehr, auch wenn die Lage in Ostdeutschland immer noch eine andere ist. Heut­zutage sind es aber gerade die modernen, aufstrebenden und wirtschaftlich starken Regionen wie Katalonien, wie Schottland, Flandern, Venetien und die Lombardei, die nach Unabhängigkeit streben oder zumindest die Finanzhoheit besitzen wollen. Und es ist dort eine Bewegung der Jungen und Erfolgreichen geworden, keine der aus­gemusterten Alten. Wohlstand fördert eben das Selbstbewusstsein.
Das offenkundige Unverständnis, das dem katalanischen Aufbegehren in vielen Medien widerfährt, erinnert bei allen Unterschieden trotzdem an die anhal­tende Skepsis, die dem deutschen Osten entgegengebracht wird. Da scheint sich ein erra­tischer Wunsch nach kultureller Selbstbestimmung und politischer Partizipa­tion artikulieren zu wollen, der nicht mehr so recht in unsere globalisierte Welt passen will und unverkennbar reaktionäre Züge besitzt.
Ralf Dahrendorf hat für diese Sicht­weise schon Anfang der neunziger Jahre die Stichworte geliefert. „Menschen können oder wollen das Leben in heterogenen Gemeinschaften nicht ertragen“, schrieb er 1992 in der Zeitschrift Merkur: „Sie suchen ihresgleichen und nur ihresgleichen.“ Die Forderung nach Selbstbestimmung aber lade „zur Diktatur ein“ und unterlaufe die Idee von Bürgerschaft, die „ein Leben mit Unterschieden erlaubt“.

Kultur vor Ökonomie
Dass solche Befürchtungen heute wieder zitiert werden, zeigt die intellektuelle Dis­tanz vieler Betrachter. Aber stimmen sie noch? Oder trifft der Vorwurf der Homogenisierung und Angleichung nicht eher auf die globalen Eliten zu, denen ein immer deutlicherer Prozess der kulturellen Ausdifferenzierung in den postmodernen Gesellschaften gegenübersteht? „Kultur statt Ökonomie“ hat der Osnabrücker So­ziologe Armin Schäfer deshalb auch seine Analyse des Wählerprofils populistischer Parteien in Europa genannt.
Wer heute mit offenen Augen durch Barcelona flaniert oder auf den berühmten Ramblas in einem Straßencafé sitzt, denkt nicht mehr an Martin Walsers Verdikt von der Heimat als dem schönsten Wort für Zurückgebliebenheit. „Abgehängt“ wäre wohl das letzte Attribut, das einem dort in den Sinn käme.
In gewisser Weise trifft das auch für Bayern und Baden-Württemberg zu. Es sind, was viele Beobachter erstaunt, eben nicht nur die sozial depravierten Landesteile, die zum politischen Resonanzraum der Rechtspopulisten wurde, sondern auch jene mit einer stabilen, traditionsbewussten bürgerlichen Gesellschaft. Das waren jahrzehntelang die Hochburgen der Union. Insofern trifft der Schock dieser Wahlen ganz besonders die CSU, deren Selbst­verständnis als legitime Bayernpartei angekratzt ist.

Falsche Pathologisierung
Mit dem Wahlausgang im Osten scheint das alles nichts zu tun zu haben. Aber der Eindruck täuscht und er wird von selektiven Bildern bestimmt. Der Osten, das ist eben nicht nur das Erzgebirge oder die Uckermark, die perforierten Landschaften und Shrinking Cities der alten Industrie­reviere. Der Osten, das ist auch Leipzig, Jena und Dresden, die Ostsee und der Thü­ringer Wald. Die blühenden Landschaften sind vielerorts wirklich geworden. Und das Gesicht des Niedergangs trägt heute vielfach westdeutsche Züge.
Auch im Osten gingen die Erfolge der AfD erkennbar zu Lasten der CDU, der Par­tei Helmut Kohls und seiner Versprechen. Auch dort ist das Entsetzen groß. Denn über Jahrzehnte hat die Union das poli­tische Geschehen in Mitteldeutschland geprägt. Doch in Sachsen wurde sie von der AfD sogar überrundet. Man kann die Ursa­chen dafür – wie der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf – in politischen Fehlern und einem beson­ders blassen Führungspersonal suchen.
Man kann auch an hässliche historische Parallelen erinnern. Tatsächlich gibt es in manchen Regionen Sachsens eine augenfällige Übereinstimmung der einstigen Wahlerfolge der Nazis mit den Hoch­burgen von Pegida. Und die Anfälligkeit für Fremdenhass und rechtsradikale Parolen ist in diesen Regionen signifikant höher. All das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber solche Befunde sollten nicht dazu die­­nen, die Ostdeutschen zu pathologisieren und ihre Anschlussfähigkeit an die liberale Gesellschaft grundsätzlich in Zwei­fel ziehen. Der Osten erhebt nicht „seine feindselige Stimme“, wie ein Aufsatzband über den Rechtspopulismus in Deutschland insinuiert. Er hat sich auch nicht „da­nebenbenommen“, wie ein Kommenta­tor des Wahlausgangs schrieb. Viele Ost­deut­sche sehen das inzwischen auch anders. Nicht mehr der alte verstockte „Jammer-Ossi“ habe bei dieser Bundestagswahl AfD gewählt, schreibt die junge Dresdner Jour­nalistin Anne Hähnig in der Ostausgabe der Zeit. Diese Wahl sei auch „kein Akt der Verzweiflung“ gewesen, son­dern einer „der gefühlten Emanzipation“. Aus dem leisen Jammern wurde lauter Pro­test, und die so Protestierenden hätten die Demokra­tie sehr wohl verstanden. Das sind neue Töne.
Tatsächlich scheint sich das Wählerverhalten in den ostdeutschen Ländern gravierend verändert zu haben, was neben der CDU vor allem die ehemalige PDS und heutige Linkspartei zu spüren bekommt. Nicht ohne Grund gibt es dort den hef­tigsten Führungsstreit. Schätzungsweise 400.000 Wähler musste die Linke an die Rechtspopulisten abgeben, was sie im Osten zur eigentlichen Verliererin dieser Bundestagswahl macht.

Wunsch nach echter Opposition
Über Jahrzehnte war sie die Partei der alten Kader, der Wendeverlierer und der DDR-Nostalgiker. Sie war der politische Schutzraum für alle, die sich im vereinten Deutschland nicht wiederfanden oder mit der freien Gesellschaft haderten. In dieser Funktion konnte die Linkspartei als Regio­nalpartei und Vertreterin der ostdeutschen Interessen auftreten. Diese sehr spezielle Verbindung von Diktatur-Erbe und regionalem Sonderbewusstsein beginnt sich offenbar aufzulösen, und das umso schneller, je mehr diese Partei im gesamtdeutschen Parteiensystem ankommt. Als Stimme des Ostens ist sie jedenfalls leise geworden. Der Protest aus den blühenden Landschaften sieht heute anders aus, und der Umstand, dass er sich einer rechts­populistischen Partei bedient, folgt einer sehr eigenen Logik. Das Misstrauen gegen­über staatlichen Autoritäten und politischen Eliten ist ein Erbe der DDR und prägt den nichtkonformistischen Teil der Ostdeutschen bis heute. Er könnte ein Grund dafür sein, warum man ausgerechnet mit dem antielitären Narrativ der AfD sympathisiert. Hier wächst wohl etwas zusammen, was eigentlich gar nicht zusammengehört.
Es gibt diese antiautoritäre Grundschwingung im Osten und es gibt ein aus­geprägtes Misstrauen gegen „die da oben“. „Ossis sind aufgewachsen in dem Wissen, dass sie Eliten gegenüber misstrauisch sein müssen“, schreibt Anne Hähnig, „und wer dieses Misstrauen in sich hat, der wird es kaum los.“
Nicht Wut und Enttäuschung von Ab­ge­hängten habe dieses Wahlergebnis be­schert, heißt es daher folgerichtig in einem Dresdner Leserbrief an die FAZ, sondern der Wunsch mündiger Bürger nach „echter Opposition“. Dass sie sich dafür einer populistischen und in Teilen offen rechtsradikalen Partei bedienen, ist bedauerlich. Dass die Ostdeutschen aber immer noch nicht in der Demokratie angekommen seien – dieser Vorwurf geht fehl.