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Leipziger Träume
Auf abenteuerliche Weise ist es Leipzig gelungen, seine gründerzeitliche Pracht zu erhalten und wieder zum Leuchten zu bringen. Ein neues Buch erzählt davon.
Das alte Leipzig ist eigentlich das neue. Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt, meint bei näherem Hinsehen die grandiose Verwandlung der alten Messestadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals ist ein geschlossener Bestand großartiger Gründerzeitbauten entstanden, wie ihn keine zweite Stadt in Deutschland besitzt. Krieg und Wiederaufbau haben davon nur einen Torso übriggelassen. Aber er imponiert den Besuchern noch immer.
Leipzig sei „eine beschädigte Stadtschönheit“, schreiben die Autoren eines jetzt neu erschienen Buches über die Stadtplanung und Architektur der Kaiserzeit, aber ihr Wert wird uns „gerade angesichts der gewaltigen Verluste bewusst“. Kaum einer anderen Metropole jedenfalls ist der Übergang zur modernen Großstadt im Kaiserreich so gut gelungen wie Leipzig, was den Ruf dieser Stadt nie begründet hat und bis heute auch nicht richtig gewürdigt wird. Als „urbanes Gesamtkunstwerk“ hat man sie nie empfunden.
Baulöwe Schneider und die Folgen
Vielleicht liegt das an der zweiten Verwandlung, die Leipzig nach der Wende vollzogen hat, und der ein mit der Dresdner Frauenkirche vergleichbares symbolträchtiges Wiederaufbauprojekt fehlte. Denn zur Rekonstruktion der von den Kommunisten gesprengten spätgotischen Universitätskirche am Augustusplatz fehlte den Leipzigern am Ende der Mut. Wenn man die moderne Bebauung dort sieht, kann man nur resignativ sagen: Das neue Leipzig ist eben nicht mehr das alte. Was dieser Stadt widerfahren wäre, wenn jene Mischung aus Investorendruck und mangelnder städtebaulicher Qualität, der schon so viele Städte zum Opfer gefallen sind, auch in Leipzig zum Zug gekommen wäre, kann man am sogenannten Brühl sehen, wo ein gigantischer Konsumriegel auch noch die letzten Spuren der alten Bebauung vernichtet hat.
Dass Ähnliches in Leipzig an vielen Stellen verhindert wurde, ist mitunter kuriosen Umständen zu verdanken. Ausgerechnet einer der größten Bauskandale der Nachkriegszeit hat am Ende zur Rettung der Bürgerhäuser und Messepaläste beigetragen, was einem später verurteilten Baulöwen wie Jürgen Schneider zu verdanken ist und dessen Besessenheit von alten Gebäuden. An einem strahlenden Sonnentag im Oktober, so erinnert er sich, habe er die bauliche Schönheit Leipzigs wiederentdeckt; und er fühlte sich als der Prinz, der sie aus ihrem Dornröschenschlaf „wach küssen wollte“. Das hat vielen Handwerkern damals auf tragische Weise die Existenz gekostet, aber einen Sanierungsprozess angestoßen, der nicht mehr umkehrbar war. Dass er in Leipzig zu einem guten Ende geführt hat, ist sicher auch dem Landeskonservator Heinrich Magirius zu verdanken, auf ganz besondere Weise aber dem Stadtentwicklungsdezernenten Niels Gormsen, der als junger Stadtbaudirektor in Schwaben den Traum seiner Generation von der autogerechten Stadt träumte, und sich später dann schützend vor jenes historische Leipzig stellte, das zum bevorzugten Ziel der Bauinvestoren wurde.
Gormsens Wirken steht in einer langen Reihe großer Stadtarchitekten, denen Leipzig sein bürgerliches Gesicht verdankt. Es gab sie in jener so viel gescholtenen Gründerzeit vielerorts, und sie haben das Bild der modernen Städte geprägt. Aber in Leipzig, der nach Berlin wohl dynamischsten Stadt im Kaiserreich, sind sie besonders zur Wirkung gekommen. Der Stadt- bauinspektor Hans Strobel etwa, der auf das menschliche Maß wert legte und eine humane, gesundheit- und „schönheitliche“ Antwort eben wollte auf die „wüste Bauspekulation“ seiner Zeit.
Prämien für Abbruch der Fassaden
Oder Paul Otto Brückwald, dem Bayreuth die tatsächliche Gestalt des Wagnerschen Festspielhauses verdankte. Der bedeutendste dieser Leipziger Baumeister war Hugo Licht, der aus Berlin nach Leipzig berufen wurde, und der Leipziger Stadtplanung und Architektur nationale Geltung verschaffte. Auch Arwed Rossbach prägte mit seinen Bauten das Bild dieser „wilhelminischen Großstadt“, und er wird heute zu Recht „zu den großen Architekten des deutschen Historismus“ gezählt. Nicht zu vergessen Ludwig Hoffmann, dessen grandioses Reichsgericht in einer Liga mit Paul Wallots Reichstagsgebäude spielt. Auch Clemens Thiemes berühmtes Völkerschlachtdenkmal erfährt mittlerweile eine neue Bewertung. Und selbst die Tradition der Reformarchitektur hat in Leipzig kräftige Wurzeln, was dem Architekturhistoriker Vittorio Magnago Lampugnani recht geben wird: „Die Moderne ist nicht der Modernismus.“
Manche dieser Namen sind noch bekannt, andere sind selbst in Fachkreisen vergessen, weshalb der Versuch des kleinen Faber-Verlags, ihnen wenigstens ein publizistisches Denkmal zu setzen, zur geschichtspolitischen Großtat wird. Schon der Titel des Buches klingt wie ein Manifest. Denn wer wagt es denn heute wirklich noch von einer schönen Stadt zu träumen, angesichts des gigantischen Desasters, das die moderne Stadtplanung in der Nachfolge Le Corbusiers angerichtet hat?
Die konservatorische Wende seit den siebziger Jahren, die Rückkehr des Ensemblegedankens und die Abkehr von den Schneisen einer autogerechten Stadt, kam für viele Altstädte zu spät. Die bauliche Hinterlassenschaft der Gründerzeit hatte es dabei besonders schwer, galt sie selbst eingefleischten Denkmalschützern lange als eklektizistisch. Der Berliner Senat hat sogar Prämien bezahlt für das Abschlagen der gründerzeitlichen Fassaden. Welchen Wert diese Architektur bis heute besitzt und zu welch überzeugenden städtebaulichen Lösungen sie in Leipzig fand, können die beiden Autoren, Wolfgang Hocquél und Richard Hüttel an vielen Beispielen aus der Stadt zeigen. Ihr Buch, dem ein bisschen Lektoriatsarbeit gutgetan hätte, handelt nicht nur vom Traum dieser schönen Stadt; es zeigt ihn vor allem. Man kann beim Durchblättern der Seiten die trunkene Begeisterung des Baulöwen Schneider sofort nachvollziehen. Er hat ja nur den tristen Zustand nach der Wende gekannt und nicht die berstende Schönheit nach der Sanierung.
Ein kleiner Beleg für die Einheit
Das Buch, das fast genau zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung erschienen ist, ist auch ein kleiner, bescheidener Beleg für die Einheit geworden. Das, was man den Aufbau Ost genannt hat, der heute so viel Kritik erfährt, ist in Leipzig auf eine bemerkenswerte Weise gelungen. Vielleicht weil es dort noch genügend Stadtbürgertum gab, das nicht nur dem SED-Regime trotzte, sondern sich auch hernach den Schneid nicht mehr abkaufen ließ. Schon in der Biografie der Autoren, der eine Ost, der andere West, wird deutlich, welcher Gleichklang möglich sein kann, wenn man den Respekt voreinander behält. Leipzig musste sich eben nicht wiedererfinden, wie man heute so gedankenlos sagt. Die Stadt hat immer ihre Rolle in Deutschland gespielt und konnte fast nahtlos daran wieder anknüpfen. Dabei hat gerade ihr urbanes Gesicht eine große Bedeutung. Wer in den ausradierten westdeutschen Städten wie Frankfurt, Stuttgart oder Hannover aufgewachsen ist, erlebt in Leipzig, Erfurt oder Dresden die Wiederbegegnung mit der deutschen Geschichte, wie man sie lange nicht mehr für möglich hielt. Das einst geteilte Land ringt mit der Einheit. Doch vielleicht lernt es eines Tages auch wieder zu träumen. Und sei es nur ganz bescheiden jenen Traum von einer schönen Stadt wie Leipzig.
Buchtipp
Wolfgang Hocquél, Richard Hüttel
Der Traum von einer schönen Stadt. Leipziger Stadtplanung und Architektur im Kaiserreich,
Faber & Faber Verlag, Leipzig 2020,
208 Seiten, 30 Euro
© Antje Berghäuser rotarymagazin.de
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