Einblick
Ruheloser Souverän
Sighard Gille, der große Leipziger Maler, wird erst allmählich von den westdeutschen Galerien und Museen entdeckt – derzeit in Bad Homburg. Ein Porträt von Michael Hametner
Günter Grass, deutscher Literaturnobelpreisträger, hat Bildhauerei studiert. Wenn er sagt: In der DDR malte man deutscher, dann ist das nicht dahingesprochen. Was meinte er? Er meinte, dass sich die Maler dort im Geist der Klassischen Moderne immer noch an Themen "abarbeiten". Das wollte im Westen des Abstrakten nach der Wiedervereinigung nicht jeder so sehen und es ist vielleicht auch ein etwas grob zugespitztes Urteil, wie es die Art von Grass war. Aber wie sie zueinanderstehen, die Maler aus Ost und West, und ihre Bilder nebeneinander hängen, das geht eben nur, wenn man die aus dem Osten auch in westdeutschen Museen zeigt. Das passiert zuweilen aber selten bis gar nicht. Ein Positivbeispiel ist dagegen der Leipziger Mal-Professor Sighard Gille, den sich der Kunstverein Artlantis in Bad Homburg eingeladen hat. Sechs Wochen, bis zum 22. Oktober, zeigt er mehr als 50 seiner Werke. Gille hat bereits an vielen Orten in der alten Bundesrepublik ausgestellt: Oberhausen, Augsburg, Borken, Gießen, Remagen – aber große Museen hatten bisher keinen Platz für ihn. Als der Künstler selbst einmal bei ihnen anrief, erhielt er zur Antwort: Sie können uns ja mal einen Katalog schicken, damit wir sehen, was sie machen.
Niemand darf ihn und seine Kunst unterschätzen. Denn jetzt kommen die Worte ungebeten zu ihm: Altmeister, Letzter der Leipziger Schule, Nestor. Ein langes Malerleben ist zu besichtigen. 1941 in Eilenburg bei Leipzig geboren, hat er kurz einen Ausflug in ein Biologiestudium gemacht, aber danach gab es für ihn nur noch die Kunst als Lebensziel. Er hatte das Glück, auf den Jahrhundertmaler Bernhard Heisig als Lehrer an der Leipziger Kunsthochschule HGB zu treffen. Dort wurde Gille ab 1992 selbst Professor und bis zu seiner Emeritierung Leiter einer Malklasse. Von den Ersten der Leipziger Schule – Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Gerhard Kurt Müller – war Gille einst der Jüngste. Heute ist er der Älteste. Das ist der Lauf der Welt. "Ruhelos" war der Titel seiner großen Retrospektive, mit der das Leipziger Museum der Bildenden Künste zu seinem 75. Geburtstag den Künstler würdigte – ruhelos ist er, jetzt über 80, noch immer. Vielleicht auch aus Trotz gegen die vergehende Zeit.
Vor zwei Jahren überraschte der Künstler mit einem Zyklus von Bildern, auf denen Clowns in grotesker Pose auf der Weltkugel tanzen. Mit den lebensgroßen Clown-Figuren gelangen dem Künstler in der Zeit der Pandemie hellsichtige Weltkommentare. Sie tanzen, springen, lärmen und machen übermütig Handstand auf unserem Planeten. Eine Clown-Frau mit dem sanftmütigen Gesicht der Gelsomina aus Fellinis La Strada streckt dem Betrachter ein abgesägtes Stück Holz entgegen, als sei es ein Neugeborenes. Die Tränen, die ihr über das Gesicht laufen, sind stille Klage über den Naturfrevel der Menschheit. Gille war schon am Anfang seines Wegs in die Kunst kein Harmonisierer, sondern ein in der Dialektik geübter Beobachter. Wenn er sich nicht gerade im freien Spiel bei Porträt, Landschaft oder Stillleben erholt, wirft er der Welt seine Kommentare entgegen, meist spöttische, oft bissige. Dafür setzt er die figurative Malerei ein, die Merkmal der Leipziger und Neuen Leipziger Schule wurde.
Haben Maler wie Gille ihre Aufmüpfigkeit in sich erst gefunden, als es die DDR nicht mehr gab? Vorher alles Sozialistischer Realismus, oder was? Bei Gille ganz bestimmt nicht. Ein Beispiel ist sein Bild "Brigadefeier–Gerüstbauer" von 1975/77. Er malte die Szene einer Brigadefeier, bei der es über Tisch und Bänke geht. Offenbar ist viel Alkohol geflossen, der Kasten Bier im Vordergrund ist leer. Aus der Tiefe des Bildes kommt ein leichtbekleideter weiblicher Tortenengel angeschwebt. Ob die Männergruppe in der rechten Bildhälfte schon in Streit ist oder gleich kommt, ist im Bildmoment noch offen. – Die Auftraggeber rümpften über Bilder dieser Art die Nase: So sind unsere Arbeiter nicht! Sie hätten die heikle Kunst am liebsten verschwinden lassen. Dass es anders kam, verdankt sich einem Zufall: Bernhard Heisig besuchte Gille im Atelier und zog das Bild "Gerüstbauer" aus einer Ecke. Weil es dieselbe Höhe besaß, machte Heisig seinem Meisterschüler den Vorschlag: Mach ein Diptychon daraus, links die Orgie und rechts die stille Normerfüllung. So kam Gilles Bild doch noch auf die VIII. DDR-Kunstausstellung. Gille war mit seinen Bildern in der Zeit der DDR kein Untergrundmaler, aber auch kein Staatsmaler.
Wer in Leipzig das Gewandhaus besucht hat, dem ist das große Bild an der Frontseite aufgefallen. Das Werk von Sighard Gille lehnt sich an die Musik von Gustav Mahler an und strahlt bis heute bei nächtlicher Beleuchtung wie ein Schaufenster moderner Malerei über Leipzigs Hauptplatz.
Die Wiedervereinigung 1990 brachte den Ostdeutschen die Einübung in die Kunst des Auswilderns. Nach den Jahrzehnten der Feier des Kollektivs verlangte der Eintritt in die neue Ordnung des Kapitalismus die Rückkehr zum Ich. Der Maler, der nicht zum ersten Mal plastisch arbeitete, ließ 13 höchst individuell ausgestattete Figuren in einen Wettbewerb eintreten. Wer das Seilklettern gewinnt und als Erster oben ankommt, hat das Auswildern bestanden. Gille bleibt politisch, aber liefert Spiel, Witz, Originalität. Die Installation "Ausgewildert" gehört heute zur Dauerausstellung des Museums seiner Heimatstadt.
Auch in Gilles Bildwelt traten Neuerungen ein, aber nichts war vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dreimal lebte und arbeitete er in den 90er Jahren in Kapstadt in Südafrika auf Einladung eines Mäzens. Die dabei entstandenen 37 Bilder setzen seine dramatisch-emphatische Malweise fort, aber treiben sie jetzt viel öfter an die Grenze zum Übertritt in die Abstraktion. Er überschreitet sie nicht. Bemerkenswert ist das von ihm geschaffene Genre des Tischbilds, dass es in der Kunstwissenschaft gar nicht gibt: Er gruppiert in der Szene Figuren in skurrilen Größenverhältnissen. Der Künstler liebt das Groteske, weil sich ihm darin die Welt offenbart. Ein Höhepunkt ist sein "Nudeltisch" von 1996. Die Damen am Tisch zeigen sich vereint in der Gier der Verschlingens von Nudeln. Gille reizt sein Sujet aus und zeigt uns, dass das Verschlingen auch ein Erbrechen sein könnte.
Als sich der Leipziger Mal-Professor 2018 – kurz nach seiner Personalausstellung im Leipziger Museum – in der Zeit im Osten als "Schattenmaler" bezeichnet fand, erfuhr er es als große Ungerechtigkeit. In den Schatten stellt ihn der altbundesdeutsche Galeriebetrieb, weil er von der Kunst aus dem Osten wenig kennt und von seinen Malern wenig besitzt. Die unvollendete deutsche Einheit stellt Sighard Gille in den Schatten, seine Kunst tut es nicht. Der Künstler ist ruhelos geblieben. Vielleicht aus Trotz gegen die vergehende Zeit.
Ausstellung:
"Gesang vom Leben" bis 22. Oktober 2023
Galerie Artlantis, Bad Homburg
Geöffnet freitags 15–18 Uhr, samstags, sonntags und feiertags 11–18 Uhr
galerie-artlantis.de
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