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Titelthema

Der Nation den Puls gefühlt

Ein ZDF-Team wollte wissen: Was bewegt die Menschen im Land? Glauben sie noch an die Demokratie? Die Antworten sind so einfach wie überraschend

Anne Klesse01.09.2017

Welche Themen bewegen die Menschen in diesem Land, welche Sorgen und Nöte haben sie? ZDF-Reporter Jochen Breyer hat sich vor der Bundestagswahl auf eine Deutschlandtour begeben, um „dem Land den Puls zu messen“. Unter dem Hashtag #wasmichandeutschlandstört hatten ihm zuvor mehr als 15.000 Menschen über Facebook, Twitter, E-Mail und per Post geschrieben. Acht von ihnen bekamen Besuch von Breyer und seinem Fernsehteam. Die daraus entstandene Dokumentation „Am Puls Deutschlands“ lief im August im ZDF und ist nun online abrufbar.
Was also stört die Menschen an Deutschland? „Top-Themen waren Familienpolitik, Altersarmut und Flüchtlinge, in dieser Reihenfolge“, sagt Breyer. „Jede fünfte Nachricht handelte davon, dass der Staat zu wenig für Kinder tut, dass es nicht genügend Kitaplätze gibt und Wohnraum zu teuer ist.“ In Wiesbaden besuchte Breyer eine Familie mit zwei Kindern. „Danke, dass Sie uns Gehör verschaffen“, sagt die Frau gleich zur Begrüßung. Seit zwei Jahren suche sie nach einer größeren Wohnung im Viertel. 1200 Euro monatlich könnten sie für Miete aufbringen, sehr viel mehr als viele andere Familien in Deutschland. Trotzdem finden sie nichts bezahlbares. Von den Politikern würde sie sich wünschen, „kinderfreundlicher zu werden und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen“. Ihr Mann ergänzt: „Uns einfach wieder wahrzunehmen.“

Globale Probleme wichtiger
Letzteres scheint einen Großteil der Menschen zu bewegen, den Eindruck hat auch Breyer. „Die Menschen haben das Gefühl, nicht gesehen zu werden. Das zog sich wie ein Roter Faden durch die Gespräche.“ Ein Pfleger in Berlin, der seit 17 Jahren im Schichtdienst für monatlich 1600 Euro arbeitet, wirkt frustriert. Es störe ihn, erzählt er im Film, dass das Gesundheitssystem vor den Bundestagswahlen jedesmal ein großes Thema sei, im Anschluss aber für keine der Parteien mehr eine Rolle spiele. „Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was wäre das?“, fragt Breyer auch ihn. Die Antwort überrascht. Der Mann wünscht sich nicht mehr Geld, sondern: „Mehr Personal. Es wäre mehr Zeit für die Leute da.“ Aus wirtschaftlichem Druck bliebe die Menschlichkeit auf der Strecke. Doch so richtig interessiere das niemanden. Ein Streik im Pflegeheim, um  Aufmerksamkeit zu bekommen, sei keine Option. „Wir sind keine Piloten. Wenn die streiken, kommt jemand nicht von A nach B. Wenn wir Dienste nicht besetzen, kommt irgendwer nicht vom Bett zum Klo. Das geht nicht.“
Insgesamt seien die Menschen zwar zufrieden mit ihrem Leben, „doch sie haben konkrete Sorgen“, sagt Breyer. „Das sind keine Dauernörgler.“ Die Politiker, so glauben viele, hätten so viel zu tun mit den globalen Problemen – „sie müssen den Euro retten, Griechenland retten, die Banken retten, VW retten. Da bleibt vielleicht keine Zeit oder keine Kraft für die Nöte der kleinen Leute“, so Breyer.
Einzige Ausnahme: eine 62-jährige Frau in der Uckermark. Sie sitzt in ihrem großzügigen Garten hinterm Haus, das nächste Flüchtlingsheim ist weit weg, persönlich habe sie noch nie mit einem Flüchtling Kontakt gehabt, sagt sie. Aber gefühlt ist die Gefahr, die von den „viel zu vielen Flüchtlingen hier“ ausgeht, nah. Jeden Tag lese sie Berichte über gewalttätige Ausländer, Vergewaltiger, Mörder, Sozialschmarotzer. Breyer hakt nach, es kommt heraus: Facebook ist ihre einzige Quelle. Anderen Medien vertraue sie nicht.
Glauben die Menschen in diesem Land an die Demokratie? „Ja, fast niemand zweifelt an der Demokratie“, sagt Breyer. Alle, mit Ausnahme der Rentnerin in der Uckermark, wollen zur Wahl  gehen.