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Der Traum von der gemeinsamen Nation
Der Völkerpsychologe Moritz Lazarus und die frühe Idee einer offenen Gesellschaft
Auf dem Sterbebett vertraute Theodor Herzl, der große Vordenker eines kommenden Israels, seinem behandelnden Arzt noch ein letztes Mal die große Hoffnung an, für die er den wichtigsten Teil seines Lebens gekämpft hatte, den eigenen Staat für die Juden. Sie werden sehen, so hat der Biograf Alex Bein diese letzten Worte überliefert, meine Volksgenossen „ziehen in ihre Heimat ein“. Fast ein halbes Jahrhundert später, am 14. August 1949, wurden auch seine eigenen sterblichen Überreste von Wien nach Jerusalem überführt. Da existierte der junge Staat Israel bereits mehr als ein Jahr. Doch die Vorgeschichte dieser einzigartigen Staatsgründung, die im Schatten der Shoah stand, hat wiederum selbst eine Vorgeschichte: die der großen und elend gescheiterten Hoffnung des liberalen Judentums, selbstverständlicher Teil zu sein der modernen bürgerlichen Gesellschaft und – wie im Falle von Moritz Lazarus – mitwirken zu können an der Zukunft des neuen von Bismarck geformten deutschen Kaiserreichs.
Es ist heute nur den Spezialisten bekannt, dass damals ein junger deutsch-jüdischer Gelehrter, Moritz Lazarus, Sohn eines Kaufmanns und Talmudlehrers aus Filehne in Posen, dem preußischen Königtum auf dem Weg in den modernen Nationalstaat gewissermaßen sein Gründungspatent entwarf: das einer liberalen Gesellschaft, die zum täglichen Aushandlungsraum von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebensform werden sollte und im erklärten Gegensatz stand zum nationalen Homogenitätsideal jener Zeit. Bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein galt Lazarus als einer der intellektuellen Vordenker der späteren Reichseinigung und Bismarck soll ihn einst den „geistigen Stifter der gesamtdeutschen Idee“ genannt haben.
Diese neue deutsche Nation sollte sich als tägliches Plebiszit ihrer Mitglieder verstehen, wie Ernest Renans berühmt gewordene Formulierung hieß; Zugehörigkeit eben nicht mehr qua Verwurzlung im völkischen Sinne, sondern als Schnittmenge verschiedenster „sozialer Kreise“, die es einem emanzipierten, liberalen Judentum ermöglichte, „deutsch werden und jüdisch bleiben“ zu können.
Man hat bis heute Ernest Renan für den geistigen Vater dieser Idee von der plebiszitären Nation gehalten, der sie in seiner berühmten Sorbonne-Rede von 1882 in die Welt gesetzt hat. Doch tatsächlich geht sie auf Moritz Lazarus zurück, der sie früher formulierte und seinem Freund Renan dann großmütigst überließ. Hauptsache, so vertraute er damals, sie kommt in die Welt. Es geisterte trotzdem lange der Vorwurf des bewussten Plagiats durch die Literatur, was sich nicht restlos entkräften lässt, aber mit den damals kursierenden Vorstellungen doch eine weitaus plausiblere Erklärung besitzt. Lazarus und Renan hatten beide das Momentum einer kühnen Vision.
Kulturelle Einheit in der Vielheit denken
Diese winzige, aber nicht unbedeutende Präzision einer mächtigen Wirkungsgeschichte ist noch das geringste Verdienst einer an Kenntnisreichtum und Stoffbeherrschung imponierenden neuen Biografie über Moritz Lazarus des Berliner Kulturwissenschaftlers Mathias Berek. Sie will keine Biografie im herkömmlichen Sinne sein, sondern die Rezeptionsund Wirkungsgeschichte eines Gelehrten-Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, der zu seiner Zeit hochberühmt war und dann bis auf ein paar Fußnoten der Wissenschaftsgeschichte in Vergessenheit geriet. Erst wenn man dieses Buch gelesen hat, weiß man überhaupt, welche Lücke es schließt. Das soll die grundlegenden Arbeiten etwa von Klaus Christian Köhnke keineswegs schmälern.
Wenn man zuvor unter Lazarus nachschlug, dann stieß man meist nur auf jene vergessene Völkerpsychologie, die er mit seinem Freund und Schwager Heymann Steinthal entwarf und deren epistemologische Sprengkraft für die damalige Zeit heute kaum mehr ausreichend nachzuvollziehen ist. Auch dass der Ausgangspunkt dieses Denkens zutiefst mit der eigenen jüdischen Lebenssituation verbunden war, muss man sich im Rückblick mühsam klarmachen. Dafür ist das historische Verständnis für dieses zu seiner Zeit nicht untypische deutsch-jüdische Dasein verloren gegangen. Völkerpsychologie war eben nicht eine leicht angemuffte akademische Übung, sondern ein Versuch, tradierte Unterschiede zu erfassen, aber viel mehr noch die kulturelle Einheit in der Vielheit zu denken. Und es war immer auch ein Denken entlang eines schmalen existenziellen Grats.
Denn wie in kaum einer anderen jüdischen Lebensgeschichte des 19. Jahrhunderts spiegelt sich in derjenigen von Moritz Lazarus so sehr die große – und wie sich dann zeigen sollte – unerfüllbare Hoffnung, sich der modernen wilhelminischen Gesellschaft anverwandeln zu können, ohne in ihr aufgehen zu müssen. Eine Hoffnung, die mit dem Aufbruch Deutschlands in eine neue liberale Ära begann und am Ende am reaktionären Zeitgeist des Bismarck-Reichs scheiterte und an dessen heftig aufflammendem Antisemitismus, der die deutsche Gesellschaft bis tief in ihren bürgerlichen Kern hinein erfasste. Noch 1887 pries Lazarus in seinem Appell „An die deutschen Juden“, wie schnell diese doch „in die innerliche Einheit des nationalen Geistes eingetreten“ und zu „Gliedern der deutschen Volksseele und des Volksgemüths geworden“ seien. Da hatte der berüchtigte Berliner Antisemitismusstreit 1879/80 diesen offenen Horizont längst wieder verschlossen. In einem Staat, der seine Kultur „zunehmend auf Nation und Protestantismus einengte“ und sich immer mehr „an rassistischen Exklusionsschemata orientierte“, war eben kaum mehr Platz für „pluralistische Gesellschaftsmodelle, wie sie deutsche Juden wie Lazarus und Steinthal vertraten“. Und trotzdem behielt „im milden Licht der Erinnerung“ die deutschjüdische Geschichte des Kaiserreichs lange Zeit ihren eigenen Charme (Ulrich Sieg). Was dann kam, hätte ohnehin jedes Vorstellungsvermögen gesprengt.
Ohne dieses Scheitern, ohne die Erfahrung des neuerlichen Ausgeschlossenwerdens und ohne die fast trotzige Rückbesinnung auf die eigene jüdische Identität wäre der Traum vom eigenen Staat, wie ihn Moses Hess träumte und dann später mit weitaus größerer Wirkung Theodor Herzl, gar nicht plausibel geworden. Dieses Bekenntnis zum Judentum hat dann auch Lazarus vollzogen. Er formulierte es allerdings als seine Ethik. Aber da war er schon ein seiner einstigen Wirkung weitgehend beraubter, am Rande stehender alter Mann. „Als unter Wilhelm II.“, resümiert Berek, „der Antisemitismus die deutsche Gesellschaft durchdrungen hatte, war der humanistisch-idealistisch, nationalliberale deutsche Jude Lazarus nur mehr ein Relikt der Vergangenheit.“ Trotzdem verkörperte er bis in seine letzten Lebensjahre hinein jenes physische wie intellektuelle Vorhandensein jüdischen Lebens und Denkens in Deutschland, von dem uns heute nur noch eine schwache Ahnung geblieben ist.
Der Wallstein Verlag hat dieser Monografie über Lazarus den Allerweltsuntertitel „Deutsch-jüdischer Idealismus im 19. Jahrhundert“ verpasst. Er hätte besser auf einen älteren Aufsatz von Mathias Berek in der Zeitschrift Medaon zurückgreifen sollen. Dort ist von der „Entstehung moderner Sozialtheorie aus der deutsch-jüdischen Lebenswelt des 19. Jahrhunderts“ die Rede, was den Kern der Sache viel besser trifft.
Die heutige Beschäftigung mit Moritz Lazarus folgt keinem antiquarischen Interesse. Was Leben und Werk dieses großen jüdischen Denkers deutscher Nation für unsere Zeit immer noch bedeutsam macht, ist der selbst in seinem Scheitern grandiose Versuch, das Verschiedene in einer Nation als ihr Verbindendes zu denken. Seine Wirkungsgeschichte zeigt, „welche alternativen Modelle von Gesellschaft, Zugehörigkeit, Pluralismus, Nation und Religion im 19. Jahrhundert denkbar waren.“ Berek zeichnet den Denkweg von Lazarus als dessen Lebensweg nach. Er hätte in die Mitte der deutschen Gesellschaft führen sollen und ist doch an ihren extremen Rändern gescheitert. Dass wir uns heute wieder seiner erinnern, dürfte freilich kein Zufall sein.
Infos
Mathias Berek
Moritz Lazarus – Deutsch-jüdischer Idealismus im 19. Jahrhundert
Wallstein Verlag,
632 Seiten, 48 Euro
© Antje Berghäuser rotarymagazin.de
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