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Eine Bühne für den Ketzer
Vor 500 Jahren verteidigte Martin Luther seine Thesen vor Kaiser und Fürsten auf dem Reichstag zu Worms. Ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung
Worms, am 17. April 1521: Da steht er nun, der schlichte Mönch aus Wittenberg – vor der versammelten weltlichen und kirchlichen Prominenz seiner Zeit. Er scheint ängstlich, unsicher und verzagt, wie Zeitgenossen berichten. Das ist kein Wunder, denn obendrein trifft er auf Kaiser Karl V., der zwar erst 21 Jahre alt ist, der aber im Begriff steht, jenes enorme Weltreich aufzubauen, in dem die Sonne niemals untergeht. Ein halbes Jahr zuvor ist er in Aachen zum römisch-deutschen König gekrönt worden, und damit darf er zugleich den Titel des „erwählten römischen Kaisers“ beanspruchen. Und nun muss sich der mächtige Regent im kühlen Norden seines Reiches ausgerechnet mit einem Augustinermönch aus der mittel-deutschen Provinz abgeben.
Der aufsässige Geistliche Martin Luther rüttelt an den Grundfesten des kirchlichen und gesellschaftlichen Gefüges, aber weil die deutschen Kurfürsten, vor allem Friedrich der Weise von Sachsen, darauf bestehen, muss der Kaiser dem Bruder Martin eine Bühne bieten – einem vom Papst gerade erst exkommunizierten Ketzer. Normalerweise folgt in jener Zeit auf den kirchlichen Bann zwangsläufig die politische Ächtung, und Papst Leo X. setzt den jungen Habsburger Regenten entsprechend unter Druck: „Unterstütze Uns in schuldiger Ausführung Unseres ergangenen Urteils. Lass ein Generalmandat allerorten in Deutschland veröffentlichen mit dem Befehl, jenen Martin und andere ihm anhängende Ketzer – wenn sie nicht Vernunft annehmen – den Strafen zu unterwerfen, die Unsere Bulle gegen sie festsetzt.“ Stattdessen jedoch erfolgt die Einladung des kritischen Mönchs nach Worms. Denn der Kaiser braucht die deutschen Fürsten für seine kriegerischen Vorhaben und muss sich deshalb mit ihnen arrangieren. Die verlangen zumindest eine Anhörung des Mönchs, bevor die endgültige Reichsacht vollzogen wird. Der Ketzer erhält sogar freies Geleit. Für die Anhänger des Reformators ist das ein unschätzbarer Propagandaerfolg, vom päpstlichen Standpunkt aus ein epochaler Missgriff.
Freche Streiche gegen den Nuntius
Sicherheit und körperliche Unversehrtheit Luthers werden zudem durch die allgemeine Stimmung in Worms garantiert, denn die Stadt erweist sich in jenen Tagen als günstiges Pflaster für die Kritik an der katholischen Kirche. Die Ratsherren liegen seit Jahren im Streit mit dem Bischof, der Worms aus Protest den Rücken gekehrt hat. Der gesamte katholische Klerus ist bei den Bürgern ausgesprochen unbeliebt, vereinzelte Priester bekennen sich bereits öffentlich zu Luthers Thesen. „Neunzig Prozent der Deutschen erhebt das Feldgeschrei ‚Luther‘, der Rest ruft mindestens ‚Tod dem römischen Hof‘“, schreibt Hieronymus Aleander in einer Depesche an den Heiligen Vater in Rom. Der päpstliche Nuntius, der Luthers Auftritt vor dem Reichstag verhindern soll, stößt auch persönlich überall in der Stadt auf Ablehnung: „Die für mich gemietete Wohnung verweigern sie mir selbst für mein Geld, da ich sie doch noch teurer als andere bezahlen will. Mein Name auf der Tür wird ausgelöscht, und tausend andere rohe und freche Streiche fallen vor, die höchst verwunderlich und kaum glaubhaft sind.“
Längst haben sich in Worms die Wellen dieses theologischen Sturms geglättet, und die Stadt kann sich heutzutage sogar mit einer ökumenischen Kuriosität schmücken: Im farbenfrohen Geschichtsfenster des katholischen Doms nimmt Martin Luther neben Karl V. einen prominenten Platz ein. Und jetzt ist das Jubiläumsjahr Anlass für ein umfangreiches Kulturprogramm mit mehr als 100 Veranstaltungen, das sich durchaus kritisch mit dem „protestantischen Heiligen“ auseinandersetzt und sich nicht in der Betrachtung und Analyse der damaligen Ereignisse erschöpft.
Die rheinland-pfälzische Landesaustellung „Gewissen und Protest“ nimmt ihren Ausgangspunkt zwar in jenen Apriltagen des Jahres 1521, beleuchtet darüber hinaus jedoch schwerpunktmäßig die Entwicklungsgeschichte von Widerstand und Gewissensfreiheit bis ins 21. Jahrhundert – von der französischen Feministin Olympe de Gouges bis zu Sophie Scholl und Nelson Mandela. Auch die traditionellen Nibelungenfestspiele werden in diesem Jahr ihren klassischen Themenbereich verlassen und ein Theaterstück zum Thema „Luther“ uraufführen – verfasst vom Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss.
Das spannendste Ereignis jedoch dürfte am 17. April die Multimedia-Inszenierung „Der Luther-Moment“ sein, die auch digital übertragen werden soll. Dabei wird die Fassade der Dreifaltigkeitskirche für eine Stunde zur größten Leinwand Deutschlands und führt die Zuschauer mit Bildern, Musik und prominenten Live-Darstellern an die entscheidende Schnittstelle von Luthers Aufenthalt in Worms: Der Reformator hat sich für sein Verhör am Nachmittag des 17. April auf einen geistlichen Disput eingestellt, doch bei seinem Erscheinen vor dem höchsten Gremium des Reichstags verlangt Karl V. schlicht und einfach einen Widerruf seiner Thesen. Luther ist überrascht von dieser Wendung und verlangt Bedenkzeit. Die wird ihm vom verblüfften Kaiser erstaunlicherweise gewährt – wieder unter Missbilligung des päpstlichen Nuntius.
Der Luther-Moment
Was passiert nun mit dem Mönch in jenem besagten „Luther-Moment“, also in der Nacht, in der er die Kirchenkritik noch einmal für seinen Vortrag am kommenden Tag zusammenfasst? Widerrufen kommt vermutlich nicht infrage, aber muss er sich darauf einstellen, wie andere Reformatoren vor ihm auf dem Scheiterhaufen zu landen? Wird ihn das im Angesicht der versammelten und meist feindseligen Staats- und Kirchenhierarchie noch besorgter und unsicherer machen als am Vortag? Etwas muss mit ihm oder in ihm passiert sein, denn am nächsten Tag scheint Luther jegliche Verzagtheit abgelegt zu haben. Vor Kaiser und Fürsten vertritt er seinen Standpunkt mit solcher Vehemenz, dass Unruhe unter den Zuhörern ausbricht und Karl V. die Verhandlung beendet. Im Nachgang wird über Luther im Rahmen des ‚Wormser Edikts‘ schließlich doch die Reichsacht verhängt.
Dennoch ist dem Reformator auf der Reichstagsbühne eine Demonstration von Gewissensfreiheit und Standhaftigkeit gelungen, die rasch in ganz Deutschland Wirkung zeigen wird: „Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, dass sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun.“
Erst später wird – propagandistisch wirksam – die griffige, berühmt gewordene Formel hinzugefügt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Die Stadt Worms aber ist für einen historischen Augenblick zum Schauplatz der Weltpolitik geworden – mit Folgen, die in jenen Tagen nicht einmal annähernd absehbar sind.
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