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Rotary Entscheider

„Man muss bereit sein, anderen den Vortritt zu lassen“

Rotary Entscheider - „Man muss bereit sein, anderen den Vortritt zu lassen“
Der Präsident des Forums Franz Fischler (li.) und Geschäftsführer Philippe Narval © Andrei Pungovschi

Mit dem Europäischen Forum Alpbach bringt Philippe Narval seit fünf Jahren interdisziplinär wichtige Impulsgeber aus aller Welt zusammen. Er ist überzeugt: Konflikte lassen sich nur durch Kooperationen lösen

Anne Klesse01.08.2017

Während des Familienurlaubs in den Wiener Alpen gibt Philippe Narval das Interview am Telefon. Die freie Zeit in den Bergen genieße er jedes Jahr kurz vor dem Start des von ihm ausgerichteten Europäischen Forums Alpbach, „um Energie zu tanken und die Kinder zu sehen, bevor wir uns dann drei Wochen lang nicht zu Gesicht bekommen“. Die überwiegende Zeit im Jahr sitzt der 39-Jährige in einem schlichten Büro im Ersten Wiener Bezirk und organisiert mit seinem Team die interdisziplinäre Veranstaltung für Wissenschaftler, Politiker, Wirtschafts- und Kulturvertreter, die in diesem Jahr rund 700 Experten und 5000 Teilnehmer erwartet, um sich relevanten gesellschaftspolitischen Fragen der Zeit zu widmen.

Herr Narval, Schwerpunkt des diesjährigen Europäischen Forums Alpbach ist „Konflikt und Kooperation“. Was erwartet die Teilnehmer?
Das Thema „Konflikt und Kooperation“ haben wir vor zwei Jahren festgelegt und damit leider den Nagel auf den Kopf getroffen. Es gibt wohl kein passenderes Thema, um die derzeitige politische Lage und kulturelle Stimmung weltweit zu beschreiben. Wir erleben überall das Aufleben von Nationalismen und Konflikten. Diese wie auch andere große Herausforderungen unserer Zeit können nur in Form von Kooperationen gelöst werden. Wir führen beim Europäischen Forum Alpbach nun die „Alpbach Debatte“ ein, um über Themen wie Globalisierung und Freihandel im Format der Oxford Union Debate zu streiten. In diesem Jahr wird Alpbach außerdem noch bunter: Wir erwarten internationale Stipendiaten aus mehr als 70 Nationen. Das schätzen auch die Entscheidungsträger, die zu uns kommen, um Inspiration und frische Ideen zu bekommen. Auf unseren Veranstaltungen können sie sich auf Top-Niveau vernetzen und gleichzeitig Diskussionen in kleinen Gruppen führen wie nirgendwo sonst.

Auf welche Veranstaltung freuen Sie sich persönlich besonders?
Ich freue mich auf großartige kontroverse Debatten und Podiumsdiskussionen. Auch der Veranstaltungsort trägt dazu bei, dass Alpbach immer etwas besonderes ist: Im kleinen Bergdorf begegnet man sich immer wieder. Man nimmt sich Zeit, denn man kann ohnehin nicht so schnell weg. Das führt dazu, dass sich die Menschen auf den Zufall einlassen. So entsteht Neues.

Das Europäische Forum Alpbach versteht sich auch als Impulsgeber für zukunftsrelevante Diskussionen. Welche Themen werden die Welt im kommenden Jahr bewegen?
Aktuell stehen in Europa gerade die negative Migrations- und Integrationsdebatte im Vordergrund. In Wirklichkeit geht es da aber um eine andere Frage: Wie geht Europa mit dem Klimawandel um? Migrationsströme sind ein direktes Resultat des Klimawandels. Dieser wird ein entscheidendes Thema bleiben. Auch, welche Chancen grüne Technologien für Afrika und Europa bieten. „Zero Waste Eegineering“ ist ein weiteres Zukunfts-Thema, die Manipulation der Stratosphäre, um das Klima zu beeinflussen. In Zusammenarbeit mit der Harvard University werden wir die Chancen und Risiken in Alpbach diskutieren. Technologien für Stadtentwicklung oder die synthetische Biologie, also der Eingriff in das Erbgut, sind weitere Themen, die wir am Horizont kommen sehen und diskutieren werden.

Und welches Thema treibt Sie ganz persönlich gerade um?
Ich bin Vater von drei Kindern, mein ältester Sohn hat das Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus. Ich ärgere mich über das österreichische Schulsystem, denn es bietet keine Chancengleichheit, die Individualförderung fällt hinten unter. Anderssein passt nicht in die Massen-Erziehungsanstalten, besondere Talente und Begabungen werden nicht gefördert und gehen verloren. Das Anderssein meines Sohnes hätte eine Chance für alle sein können, ihre vielfältigen Besonderheiten zu entdecken. Aber auf der öffentlichen Volksschule war das nicht möglich. Meine Frau und ich haben ihn deshalb vor drei Jahren umgeschult und auf eine Inklusionsschule gegeben. Mit Hilfe von Therapien, eines Partnerhundes und dem aktiven Engagement von uns als Eltern hat er nun solche Fortschritte gemacht, dass für ihn jetzt, in der dritten Klasse, das Gymnasium in absoluter Reichweite ist. Andere Kinder, die eine solche Förderung nicht erfahren, werden sich leider nie so unabhängig und selbständig in die Gesellschaft einbringen können wie mein Sohn. Das macht mich traurig und zeigt, wie falsch wir Prioritäten setzen.

Dabei werden wir in Zukunft wie nie zuvor Menschen brauchen, die in Kausalitäten denken können, Menschen mit besonderen Talenten und Social Skills. Um diese Eigenschaften zu fördern, sollte unsere Gesellschaft die besten Kindergärten der Welt schaffen, denn dort finden die Grundlagen der Entwicklung statt. Da läuft die Diskussion hierzulande komplett falsch. Es kann nicht sein, dass Chancengleichheit ein Privileg der Geburt und abhängig davon ist, in welcher Familie man aufwächst, welches Maß an Zuwendung und Therapie man bekommt. Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie wichtig frühkindliche Förderung ist.
Das gefällt mir an Rotary: Während die Projekte früher vor allem den Charity-Anspruch hatten, geht es mittlerweile um „Empowering“: Wie kann ich Menschen mit ihren besonderen Persönlichkeiten dazu befähigen, sich bestmöglich in die Gesellschaft einzubringen?

Inwiefern ist Rotary da eine Hilfe?
Obwohl ich auch sonst privilegiert bin, was das über den Tellerrand schauen betrifft, ist es für mich genau das: Viele meiner Clubfreunde hätte ich ohne Rotary wohl nicht kennengelernt und diese Freundschaften wäre nie entstanden. Auch das generationenübergreifende gefällt mir. Sich Rat von einem älteren Freund oder einer Freundin im Club holen zu können, eine gemeinsame Basis zu haben, das ist etwas sehr Schönes.
Aktuell plane ich einen Vortrag zum Thema Leadership. Ich glaube, dass wir gerade keine Krise der Eliten erleben, wie so oft beschworen, sondern eine Krise der politischen und gesellschaftlichen Führung, die ihre Prioritäten stark auf monetäre Fragen gelegt hat und weniger auf die der Verantwortung. Ich glaube, die große Herausforderung ist es, junge Menschen zu Führungskräften des 21. Jahrhunderts zu „empowern“, die Kooperationen und ethische Fragen in den Vordergrund stellen. Leadership heißt, Verantwortung zu übernehmen. Für mich persönlich – als Führungskraft, als Vater, als jemand, der in der Gesellschaft steht – ist das eine der großen Fragen dieser Zeit. Denn wenn ich mir die letzten 30 Jahre in Europa anschaue ist es offensichtlich, dass da beim Thema Leadership etwas schief gelaufen ist.

Was macht denn für Sie eine gute Führungskraft aus?
Die Realität ist so konfliktgeladen, da sollten Führungskräfte mehr auf Kooperation setzen, Konflikten aber nicht aus dem Weg gehen. Mir ist es wichtig, den Menschen im Gegenüber wahrzunehmen, zu spüren, wie es dem Team geht. Ich arbeite unter dem Jahr mit einem Team aus 15 Leuten, das während des
Forums auf 100 Mitarbeiter wächst. Da möchte ich ein zuhörender Geschäftsführer sein. Es bringt nichts, gegen die Wand zu rennen. Die Leute müssen mitgehen, eine Entscheidung, die man als Führungskraft trifft, mittragen. Ich mag die Philosophie der „Servant Leadership“, die ein kooperatives Umfeld schafft.

Und wie treffen Sie wichtige Entscheidungen?
Grundsätzlich finde ich es wichtig, sich überhaupt für einen Weg zu entscheiden, erst recht, wenn man sich in einer Führungsposition befindet. Wenn Menschen zögern, zu lange abwarten und am Schluss nicht fähig sind, für etwas gerade zu stehen, sind sie schlechte Führungspersönlichkeiten. Die Organisation unseres Forums mit 5000 Teilnehmern aus 100 Nationen vergleiche ich gerne mit einer U-Boot-Fahrt: Wir stehen wie eine U-Boot-Crew auf engstem Raum in den Veranstaltungswochen unter enormem Stress und müssen uns aufeinander verlassen können. Es gibt Konflikte, aber wir müssen kooperieren. Das funktioniert nicht, wenn sich einer in den Vordergrund rückt und alle Entscheidungen allein trifft. In Krisensituationen mag das anders sein. Aber grundsätzlich treffe ich Entscheidungen, nachdem ich sie vorher mit all meinen Teammitgliedern besprochen habe. Ich höre in die Gruppe und hole Ideen ein. Dafür muss man Teamplayer und auch mal bereit sein, anderen den Vortritt zu lassen. Das lernt man nicht in der Schule, sondern bei den Pfadfindern, im Teamsport, im Ehrenamt oder in Nebenjobs. Ich habe in meiner Zeit als Kellner in einem Londoner Restaurant sicherlich mehr über Führung gelernt als in einem Jahr in Oxford.