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Rotary Entscheider

„Wer zaudert, bewegt sich nicht“

Rotary Entscheider - „Wer zaudert, bewegt sich nicht“
Boris Otto arbeitet an Innovationen, die zur Beherrschung von Digitalisierung ­beitragen sollen. © Fraunhofer

Der neue Leiter des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik ISST über Digitalisierung, Datensouveränität und Bauchentscheidungen

Anne Klesse01.03.2017

Er war Berater bei der PwC Unternehmensberatung, promovierte während seiner Anstellung am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation an der Universität Stuttgart. Anschließend zog es ihn wieder ins Business Consulting zu SAP nach Walldorf, bevor er an das Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen wechselte: Boris Otto ist mit ­seinen 45 Jahren schon viel herumgekommen.

Nach seiner Habilitation folgte 2013 der Ruf an die TU Dortmund. Parallel dazu übernahm Otto eine Hauptabteilung am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, bevor er zu Anfang dieses Jah­res zum Leiter des ebenfalls in Dortmund ansässigen Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik berufen wurde. Die neue Position feierte er bescheiden mit seiner Frau und den acht und zehn Jahre alten Söhnen. Für das Interview nimmt er sich zwischen mehreren Terminen in München, Ingelheim und Hannover Zeit.

Herr Otto, wie muss man sich den Arbeitsalltag als Leiter des Instituts für Software- und Systemtechnik vorstellen?
Wir machen angewandte Forschung, ­arbeiten also an Innovationen. An neuen Erfindungen, die beim Beherrschen der Digitalisierung helfen. Digitalisierung ist für uns dabei der Oberbegriff für eine gesellschaftliche, betriebswirtschaftliche und technologische Entwicklung.

Am Fraunhofer-Institut verstehen wir uns als eine Art Brücke zwischen fixen Ideen, die an der Universität entwickelt werden, und dem Markt, auf dem sich Produkte behaupten müssen. Mindestens ein Drittel unseres Budgets kommt von Industrieunternehmen, die uns beauftragen, neue Technologien oder Verfahren zu entwickeln, die in absehbarer Zeit betriebswirtschaftlichen Nutzen bringen.

In Ihrer Laufbahn sind Sie mehrfach zwischen Wissenschaft und Wirtschaft gewechselt. Ihre Arbeit am Fraunhofer-­Institut klingt so, als müssten Sie sich künftig nicht mehr für eine Seite entscheiden?
Ja, das ist richtig. Alle meine Jobs haben mir Spaß gemacht und ich habe immer gerne Projekte mit der Industrie gemacht, ob bei PwC oder SAP. Aber ich erforsche auch gerne Ursachen, warum bestimmte Dinge funktionieren und andere nicht. Bei klassischen Beratungsprojekten ist das generell nicht vorgesehen. Immer dann, wenn es eigentlich spannend wurde, stand das nächste Projekt an. Bei Fraunhofer habe ich nun die Chance, tiefer einzusteigen, Gründe zu erforschen und Lösungen zu entwickeln, die fundiert und begründet sind. Dazu laufen wir nicht Trends hinterher, sondern definieren sie selbst. Als Professor an der Technischen Universität Dortmund habe ich dazu noch den Bezug zu Studierenden und damit quasi das Ohr an der Schiene der nächsten Generation. Das ist toll!

Wenn Sie also an der Quelle sitzen – verraten Sie uns den nächsten Trend?
Ein Thema, an dem wir gerade arbeiten, ist die sogenannte Souveränität über die eigenen Daten – auch jenseits von Facebook und anderen Social Networks ein riesiges Geschäftsfeld. Unternehmen ­haben erkannt, dass sie ihre Daten stärker austauschen müssen, um zukünftige Geschäftsmodelle anbieten zu können. Damit steigt der Wert ihrer eigenen Daten, da man sie besser nutzen kann. Das stellt die Unternehmen vor ein Paradoxon: ­Einerseits wollen sie ihre ­Daten tauschen, andererseits schützen, die Souveränität über die Daten zu wahren. In einem großen Projekt, das wir „Industrial Data ­Space“ genannt haben, entwickeln wir aktuell ein Verfahren, diesen Zielkonflikt zu beherrschen: Den Daten soll, bildlich gesprochen, in einem Umschlag mitgege­ben werden, wer was mit ihnen machen darf. Ein anderes großes Thema, gerade ­unter den Studierenden, ist der 3D-Druck. Zusammen mit dem Logistikdienstleister DB Schenker haben wir ein Projekt auf­gesetzt, um herauszufinden, ob es dafür einen Markt gibt. Man könnte doch beispielsweise Ersatzteile für Oldtimer drucken anstatt sie kilometerweit hin- und herzufahren. Die Arbeit mit den Studierenden ist da sehr erfrischend: Sie probieren Dinge einfach aus und entwickeln mit ihrem jungen Denken spielerisch neue Technologien und Ideen.

Und wie gehen die Studenten mit Themen wie Digitalisierung oder Big Data um?
Facebook-Chef Mark Zuckerberg soll ja mal gesagt haben: „Privacy is a concept of the past.“ Das kann man gut finden oder nicht – aber es wird wohl so kommen. Wir werden anders mit unseren Daten umgehen als früher.

Privates wird öffentlich. Und das muss ja nicht nur schlecht sein. Die Studenten haben das schon viel weiter verinnerlicht als wir Älteren. Und ansonsten: Wer meint, dass E-Mails ein modernes Medium sind, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt – E-Mail wird als „old school“ angesehen, das ist für die jungen Menschen ähnlich veraltet wie Briefeschreiben.


Prof. Dr. Boris Otto (RC Dortmund-Neutor) ist Wirtschaftsingenieur und Inhaber der Audi-Stiftungsprofessur für Supply Net Order Management an der TU Dortmund und seit Januar 2017 Leiter des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik ISST.
 
isst.fraunhofer.de


Und wie ist die deutsche Wirtschaft in Bezug auf Digitalisierung und Big Data aufgestellt?
Manche Unternehmen dachten wohl, die Digitalisierung würde an ihnen vorüber ziehen und sie müssten sich gar nicht erst mit ihr beschäftigen, aber langsam ist allen klar, dass niemand an diesem Strukturwandel vorbeikommt. Das Problem: Mitarbeiter werden „Head of digital“, ohne Ahnung zu haben. Es gibt für das Thema Digitalisierung ja keine Erfahrungswerte. Das Fraunhofer-Institut hat auch eine Katalysatoren- und Mediatorenfunktion. Fragen, die alle betreffen, greifen wir auf, bearbeiten sie und geben Handlungsanweisungen für Branchen, entwickeln Technologien und Lösungen, die allen helfen. Ein Motto von uns lautet „Im Auftrag der Zukunft“ – da ist schon viel dran. Dass es uns gibt, ist ein Standortvorteil in Deutschland. Viele andere Länder haben nichts Vergleichbares.

Wo hinken deutsche Unternehmen international hinterher?
Im Consumer-Bereich ist Deutschland nicht besonders gut aufgestellt – Apps wie Uber, Airbnb oder Netflix kommen alle aus den USA. Vielleicht denken wir Deutschen dafür zu wenig quer und zu sehr verkopft-ingenieursmäßig. Bei indus­triellen Anwendungen hingegen, die ja nach den gleichen Prinzipien funktionieren – über Datensicherheit, Arbeitsschutz, Skalierung, Standardisierung – ist dieses „Ingenieursdenken“ enorm wichtig.

Da hat die Industrie hier einen großen Vorteil. Insgesamt würde ich sagen: Es reicht nicht, wenn Vorstände ins Silicon Valley fahren und zurück in der Heimat dann beklagen, dass es hierzulande einfach keine „digitale Denke“ gäbe. Wir müssen unseren eigenen Weg finden und nicht einfach Konzepte aus dem Silicon Valley kopieren.

Wie gehen Sie selbst mit Ihren ­persönlichen Daten um?
Ich wäre bereit, meine Daten zu tauschen, wenn die Dienste besser wären. Ein Beispiel: Ich bin sehr viel dienstlich unterwegs. Auf meinem Smartphone habe ich Apps für den öffentlichen Nahverkehr, die Bahn, Fluggesellschaften, Hotels. Jedes Mal muss ich Benutzernamen und Passwort eingeben, immer dieselben Daten. Wie praktisch wäre es, wenn die sich meine Daten teilen würden, zum Beispiel meinen Reiseplan oder meine Reisepräferenzen. Ich hätte kein Problem damit – wenn ich sichergehen könnte, dass sie nur zu dem Zweck verwendet werden, den ich selbst bestimme. Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis es so einen integrierten Dienst gibt. Die Frage ist nur, wer ihn zuerst anbietet.

Wie treffen Sie Ihre Entscheidungen, sind Sie – ganz Wissenschaftler – ein Kopfmensch, der sorgfältig alle Argumente abwägt, oder hören Sie auch mal auf Ihr Bauchgefühl?
Die meisten wichtigen Entscheidungen habe ich wohl mit dem Bauch getroffen und hinterher rational justifiziert. Letztendlich verlasse ich mich aber auf meinen Instinkt. Ich hatte zum Beispiel nie vor, Professor zu werden. Ich habe immer nur den nächsten, für mich sinnvollen Schritt gemacht. Ich glaube, man muss Gelegenheiten erkennen und Entscheidungen dann auch schnell treffen, selbst wenn nicht in jedem Detail abschätzbar ist, wie es sich entwickelt. Ich kenne viele, die zu lange überlegen und zaudern – und sich am Ende nie bewegen.

War die Entscheidung für Rotary auch eine Bauchentscheidung?
Als ich von einem Kollegen eingeladen wurde, habe ich schon darüber nachgedacht, ob ich die regelmäßigen Treffen zeitlich hinbekomme. Ich habe mich mit meiner Frau besprochen und mich dann auch ein Stück weit vom Bauchgefühl ­leiten lassen.

Die freundschaftliche Gemeinschaft der Rotarier finde ich einfach sehr ansprechend. Ich habe bei Veranstaltungen viele interessante Menschen kennengelernt, die in unterschiedlichen Domänen erfolgreich sind, aber alle ein gewisses Understatement pflegen. Das passt mir als Hanseaten – ich bin in Hamburg aufgewachsen – natürlich gut.