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Literatur

Abenteuerreise ins Zwischenreich

Literatur - Abenteuerreise ins Zwischenreich
Schaut Jens Sparschuh uns an? Nicht wirklich. Der Philosoph und Bestsellerautor hat einen beeindruckenden neuen Roman vorgelegt. © Joachim Gern/Kiepenheuer & Witsch Verlag

Wie man sich an das erinnert, was man nie erlebt hat: Jens Sparschuhs neuer Roman "Nicht wirklich" unternimmt eine Reise in die Fiktion.

Michael Hametner01.06.2023

In Jens Sparschuhs neuem Roman findet sich diese Passage: Der Vertretungsprofessor und Erzähler wird vom Vertretenen eingeladen. Er sähe ihn gern als Nachfolger, aber dazu fehle eine bedeutsame Publikation. Als Thema dafür ist Hans Vaihinger im Blick, der Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit seiner Philosophie des „Als-ob“ große Wirkung hatte, die bis in unsere Tage nahezu spurlos verraucht ist. „Na, haben Sie wenigstens schon einen Titel?“, fragt der Mentor. Der Angesprochene muss den Tatsachen entsprechend antworten: „Nicht wirklich!“. Was den Altprofessor unerwartet beglückt: „Toller Titel, Anton, wirklich. Eine bessere zeitgenössische Übersetzung von ‚als ob‘ gibt es ja gar nicht.“ Dass Sparschuh einen Suchscheinwerfer auf das Werk des authentischen Hans Vaihinger (1852–1933) richtet, macht den Roman nicht zur Wissenschaftsgeschichte. Obschon man nach Ende der Lektüre Vaihingers Verschwinden zu bedauern beginnt. Denn Vaihinger war als Philosoph des „Als-ob“ dem auf der Spur, was nicht wirklich ist, und pries die Einbildungskraft. Die macht sich der Autor auf besondere Weise zunutze. Sie gestattet ihm, in sein Erzählen einen doppelten Boden einzuziehen. Was ist Realität, was sieht nur so aus? Passend gibt er dem Roman den Titel Nicht wirklich. Ein Spiel der Fantasie mit doppeltem Gewinn: in Vaihingers Philosophie an Erkenntnis, in Sparschuhs Roman an lustvollem Erzählen.

Die Kraft der Imagination

Jens Sparschuh, geboren 1955 in Karl-Marx-Stadt, heute wieder zurückbenannt in Chemnitz, hat in den 70er Jahren in Leningrad, heute wieder zurückbenannt in Sankt Petersburg, Philosophie studiert. Einem Mann, in dessen Leben zwei Städte, die ihre Namen ausgetauscht haben, dürfte das Spiel mit allem, was nicht wirklich ist, vertraut sein. Er hat es in seiner Laufbahn als Philosoph bis zur Promotion gebracht, aber dann die Aussichten in diesem Beruf in der DDR bedenkend, sich lieber für die Literatur entschieden. Aber die Philosophie blieb in seiner Literatur seit Mitte der 80er Jahre vernehmliches „Hintergrundrauschen“. Das Hörspiel Ein Nebulo bist du, für das der Autor 1990 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet wurde, ist der Monolog des Kammerdieners von Immanuel Kant, eines der größten Philosophen des deutschen Idealismus. Sein Diener Lampe hat eine eigene Meinung von seinem Herrn und dessen Philosophie, keine besonders ideale. Darüber lässt er sich auch mit deutlichen Worten aus. Womit Sparschuh das Kantsche Denken, das er in des Dieners Selbstgesprächen respektlos herunterbricht, quasi von unten packt.

Der Autor mutet den Lesern nicht seinen philosophischen Ehrgeiz zu, beschäftigt sich aber im Hintergrund seiner Hörspiele und Romane gern mit Grundfragen des Lebens. In Nicht wirklich ist es zugleich eine der entscheidenden Fragen der Literatur. Die „Als-ob“-Konstruktionen der Fantasie sind nichts anderes als erfundene Realität, und die ist bekanntlich das Hauptelixier von Literatur: die Fiktion. Sparschuh besitzt die Gabe, das Theoretische mit ein, zwei Spritzern dem Erzählfluss beizumengen, dass es sich auf unterhaltsame Weise auflöst. Im Roman Im Kasten (2012) war es die Suche nach einer optimalen Ordnung, in Schwarze Dame (2007) wurde wegen einer Frau eine originelle Theorie des produktiven Verlustmachens angewandt, und im Roman Das Ende der Sommerzeit (2014) ging es um ein abgründiges Spiel mit Realität und Fiktion, weil eine Skizze nicht mit der Wirklichkeit zur Deckung zu bringen war.

In Sparschuhs Erzählen biegen die Protagonisten gern einmal falsch ab oder nehmen wörtlich, was man nicht wörtlich nehmen sollte, und erreichen ihr Ziel meist wider Willen. Das war bereits in seinem wohl erfolgreichsten Roman Der Zimmerspringbrunnen (1995) so, in dem ein Vertreter mit einer abgrundhässlichen Kreation alle Verkaufsrekorde schlägt. Viele Spuren in Sparschuhs Werk führen zu einem Satz von Vaihinger: „Die Wahrheit ist eben nur der zweckmäßigste Irrtum.“

Um das Philosophische ins Bild der Literatur zu setzen, beginnt der Autor beim Spiel der Kinder. Wenn ein kleines Mädchen eine alte graue Gardine stolz auf dem Kopf trägt, ist diese in seiner Vorstellung ein Schleier und es eine Prinzessin. Das ist das Wesen der Fiktion, genauso wie das, was einen Nachbarn, dernach der Wende seinen Arbeitsplatz verloren hat, dazu führt, täglich ein „Als-ob“-Spiel zu spielen. Jeden Morgen verlässt er pünktlich das Haus, als ginge er ins Büro. In Wirklichkeit mischt er sich auf dem Friedhof unter eine Trauergesellschaft und mimt einen Freund des Toten. Ihm wächst in seiner Not die Kraft zu, „ideale Bilder zu formen und abwesende Dinge gegenwärtig zu machen“. Womit Sparschuh über die Figur des abgewickelten Herrn Paul geschickt davon erzählt, wie die kleine Schwester der Fiktion, die Imagination, funktioniert.

Auf das „Beinah“ kommt es an

Der Bogen des Erzählens in Nicht wirklich läuft dem Ziel entgegen, die Abschaffung des Lehrbereichs Philosophie am Institut für Kunstwissenschaft aufzuhalten. Dabei wäre Philosophie in einer Welt, die sich in digitale „Als-ob“-Welten mit vielen fiktiven Realitäten aufzulösen beginnt, ein ganz wichtiger Lebenskompass. Aber ob Vertretungsprofessor Lichtenau den KW-Status der Institutsphilosophie (KW bedeutet: kann wegfallen!) mit einem Vortrag über die ruhmreiche Vergangenheit des philosophischen Instituts schafft, ist fraglich. Seine Rede öffnet keine Tür in die Zukunft der Hochschule, sondern klingt nach Nachruf. Vorher macht er bei einer touristischen Reise nach Sankt Petersburg die Bekanntschaft einer Dame, die durch die Verwechslung des Koffers später seine Frau wird. Dabei gerät er quasi durch falsches Abbiegen auf die Straße zum Glück. Der Erzähler wünscht sich – als er von einem Kanalboot in Petersburg aus einen Mann beobachtet –, er wäre in einem anderen Leben dieser Mann gewesen. Anders als der Autor in den 70er Jahren hat seine Hauptfigur nämlich nicht in Leningrad-Sankt Petersburg studiert. Seine Russischkenntnisse waren dafür nicht ausreichend. Hätte er aber beinah. Auf dieses „Beinah“ kommt es an. Es gibt dem wunderbar klugen und unterhaltsamen Roman die Richtung zu einer Abenteuer reise ins Zwischenreich von Realität und Fiktion. Die Reiseanleitung dafür lautet: „Sich genau, in allen Einzelheiten, an das zu erinnern, was man nie erlebt hat“.


Infos

 

Jens Sparschuh,

Nicht wirklich

Kiepenheuer & Witsch 2023,

225 Seiten, 22 Euro