Literatur
Der Fluch der Schönheit
Auf der Suche nach dem Genius Loci auf Deutschlands schönster Halbinsel. Eine Reise nach Fischland, Darß und Zingst
Der wilde Weststrand zwischen Ahrenshoop und Darßer Ort, der aus Backstein gemauerte Leuchtturm, den es in 50 Jahren nicht mehr geben wird, weil das Meer sich das Land geholt haben wird, auf dem er steht, und der fünf Kilometer lange und an manchen Stellen 80 Meter breite Prerower Nordstrand, mit so feinem Sand, dass die Berührung mit nackten Fußsohlen ein Quietschen erzeugt, als rutsche man, und der als schönster Strand Deutschlands gilt. Ich kann die Schönheit von Fischland, Darß und Zingst auch auf anderem Weg ansteuern. Wenn ich vom Bodden kommend mit der MS Heidi den Prerowstrom hinauffahre, über mir die Seeadler und im Schilf eine der zwei dort in diesem Jahr gesichteten Seerobben, dann klopft das Herz nicht weniger, und man glaubt die Natur in Sicherheit. Im Norden, Westen und Osten das Meer, im Süden der Bodden. Die Halbinsel ist 45 Kilometer lang, in der Mitte am Darßer Ort geknickt, dass sie aussieht wie ein Ellbogen. Es war ein Buch, das mich nach langer Abwesenheit wieder auf den Darß gelockt hat: Wie schön! – Wie schön! Fischland, Darß und Zingst literarisch. Darin hat die Herausgeberin Kristine von Soden literarische Texte aus knapp zwei Jahrhunderten versammelt. Sie legten in mir eine längst vom Leben in Leipzig und Wien verschüttete Sehnsucht frei, die gestillt werden wollte. Also schnell gepackt und losgefahren. Mit dem Plan, den Genius Loci, den die kleinen Berichte und Beschreibungen im Buch umkreisen, mit der Realität des Jahres 2023 abzugleichen.
Die meisten Autoren aus den Anfangsjahren ab Mitte des 19. Jahrhunderts beschreiben die Landschaft von Fischland, Darß und Zingst als herb und karg. Da waren nur Dünen und Windflüchter, Wolken und Wiesen, hohe Himmel und im Wolkenschatten dunkle Böden. Es war eine zweideutige Schönheit, die 1892 zum Plan führte, in Ahrenshoop eine Künstlerkolonie zu gründen. Für schöne Motive reiste man nach Italien. Als einer der Ersten unter den Malern, die hier oben ihre Staffelei in den Wind gestellt haben, gilt Paul Müller-Kaempff. Die Bilder, die er und die anderen Pioniere – unter ihnen mit Anna Gerresheim, Elisabeth von Eicken, Dora Koch-Stetter viele Frauen – mit nach Berlin brachten und in Galerien zeigten, lockten die schon damals im Stress versinkenden Großstädter an. Die Suche nach Ruhe und Einsamkeit müssen wir uns offenbar ähnlich wie heute vorstellen.
„Wir können euch nicht brauchen“
Die Männer unter den Einheimischen lebten als Seeleute oder als Fischer vom Meer. Fischländer waren Kapitäne für die Flotten von Rostock und Stralsund und die eigene. Sie fuhren um die Welt und brachten nicht nur einen beträchtlichen Wohlstand unter die Schilfdächer der Darßer Kapitänshäuser, sondern auch Bildung mit in die Heimat. Zurück blieben die Frauen. Manche entdeckten sich als Pensionswirtin für die Maler und die ersten Touristen. Zwischen 1881 und 1883 stieg die Zahl der Urlauber von 100 auf 300, lese ich bei Christian Johann Friedrich Peters in seiner Darstellung von Wustrow als Ostseebad. Der Tourismus nahm vor 140 Jahren seinen Anfang, wurde stürmischer und stürmischer wie das Meer an launischen Tagen, sodass er Anfang des 20. Jahrhunderts – schreibt der Berliner Ahrenshoop-Sympathisant Edmund Edel in seinem Beitrag im Buch – wieder gebremst werden musste. Weil er Ruhe und Beschaulichkeit entschwinden sah, hat Edel seinen Berliner Freunden allen Ernstes geschrieben: Kommt nicht, Ahrenshoop besitzt nichts, was ihr von einem Badeort verlangt: gutes Essen, Gelegenheiten zum Automobilfahren und für Smoking oder Frack, und dreimal am Tag umziehen geht auch nicht – also nicht kommen! „Wir können euch nicht brauchen“, schreibt er. Da war die Entwicklung des Tourismus an diesem Teil der deutschen Ostseeküste schon ein Selbstläufer und nicht mehr aufzuhalten. Diese missliche Entwicklung trieb auch die Künstlerkolonie nach dem Ersten Weltkrieg zur Auflösung, und Peter Edel, der Initiator der Anti-Werbung, wurde nicht mehr gesehen.
Auch das 20. Jahrhundert ist in Kristine von Sodens Anthologie literarisch gut belegt. Da kommt die Familie Miethe zu Wort, deren Tochter Käthe Miethe noch heute als die Heimatdichterin vom Darß gilt. In ihren Romanen und Beschreibungen beginnt der aufmerksame Leser „ein wenig die Sprache zu verstehen, die hier die Welt der stummen Dinge spricht“. Den Leser nehmen der Bildhauer Gerhard Marcks, die Dichterin Marie Luise Kaschnitz, Max Schwimmer, Becher, Brecht und Johnson mit in die Darßer Sommerfrische. Allerdings schwärmt Brecht nicht von ihr. Auch diese Stimme muss es geben, denn das Buch ist kein Lobgesang, sondern die Charakterstudie einer Landschaft und ihrer Menschen.
Wie aber steht es um den Genius Loci, den zu finden ich an einem Vorsommertag losgezogen war? Die ersten Zugereisten, die ihn zu beschreiben versuchten, nannten ihn den Ort, wo Mensch und Natur in nächster Nähe miteinander leben. Nicht wie in der Stadt, wo Natur verbaut und versteckt ist. Die Ahrenshooper Maler waren Landschaftsmaler. Sie malten ihre Stimmungen bei allen Wettern, malten die Jahreszeiten und liebten besonders den Winter. Auf den Bildern von Paul Müller-Kaempff, sagt der Kurator Andreas Käppler, kann man am Farbenspiel erkennen, ob es ein kalter oder ein milder Winter war. In der Natur lesen können, das hatten die Fischer und Seeleute an diesem Ort gelernt. Sie wussten sich mit der Natur verbunden und sahen vielleicht schon deshalb keine Notwendigkeit, auch noch die Fremden nahe an sich heranzulassen, schreibt Claus Hammel. Vielleicht war das so. Heute ist es in jedem Fall anders.
Die Keramiker-Dynastien von Ahrenshoop
Ich besuche den Keramiker Johann Klünder, der Haus und Werkstatt in Althagen hinterm Boddendeich hat. Er ist Enkel der Malerin Dora Koch-Stetter und des Zeichners Fritz Koch-Gotha, deren Bilder im Kunstmuseum von Ahrenshoop zu erleben sind. Tochter Barbara heiratet 1943 den Maler Arnold Klünder, der im Zweiten Weltkrieg in Berlin sein Atelier verliert und sich zu seinen Schwiegereltern auf den Darß zurückzieht. In Althagen beginnt er, Keramik in eigener Werkstatt herzustellen. Ab 1976 übernimmt Sohn Johann mit seiner Frau Katharina die Werkstatt. Bis heute entsteht ihre Keramik mit der sehr eigenen Handschrift der Klünders. Ich wusste, dass in Ahrenshoop bis heute zwei Keramiker-Dynastien leben, die Klünders und die Löbers. Ein solches Urgestein wie Johann Klünder nach dem Genius Loci zu fragen schien mir passend. Wie überraschte mich seine Antwort, als er sagte: Heute ist der Genius Loci das Geld. Spätestens jetzt wusste ich, dass ich trotz der Windstille des Tages, der sich mit fast 30 Grad schon wie ein Sommertag anfühlte, nicht in einer Idylle angekommen war. Ich hätte es wissen müssen. 2022 hatten die rund 5000 Einheimischen 539.000 Urlauber aufgenommen. Dabei ist diese Zahl von Corona noch gedrückt. Auch in diesem Jahr liegt man noch leicht hinter den Zahlen von vor der Pandemie. Dabei weiß Johann Klünder, dass er und nahezu alle anderen Einwohner von den Gästen leben. Wir sitzen der Sonne wegen im Schatten, und den sieht er auch: „So viele Touristen verträgt die Landschaft nicht“, sagt er. Maßnahmen der Gemeinde für einen nachhaltigen Tourismus sind angedacht, aber nur in ersten Schritten verwirklicht. Die Tatsache, sagt mir Klünder, dass der Bodenrichtwert mittlerweile bei den besten Stücken mit sofortiger Bauerlaubnis bei mehr als 1000 Euro pro Quadratmeter liegt, lockt Investoren an, die nicht die Landschaft anzieht, sondern die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ein Sommer für ihn in Althagen auf dem Darß heißt: Luft anhalten und durch. Im späten Herbst, manchmal auch erst kurz vor Weihnachten, gehört der Ort allmählich wieder ihnen, und es beginnt eine stille Saison ohne Urlauber. – Alle Orte in dieser Welt, deren Schönheit sich herumgesprochen hat, ziehen Fremde wie mich an, sie sonnen sich kurz an unseren Liebeserklärungen und treiben es schon mit den nächsten. Johann Klünder, geboren in Althagen bei Ahrenshoop, sagt es ohne Bitternis, gerade so, als erklärte er mir den Lauf der Sonne.
Ich habe sie gesehen: die weißköpfigen Seeadler mit mindestens zwei Meter Spannweite der Flügel, die Kegelrobbe und einen Schwarm Sandregenpfeifer. Was ich in der Kernzone des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft noch hätte sehen können, weiß ich nicht, denn die ist für Touristen Gott sei Dank gesperrt. Das Buch, das meine Sehnsucht angestachelt hatte, schließt mit Texten von heute. Darunter auch Ingo Schulzes Beschreibung eines Sonnenuntergangs vom Bakelberg aus, der mit 18 Metern über dem Meeresspiegel höchsten Erhebung auf dem Fischland. Ich kann mich nicht erinnern, so viel Naturbeschreibung in einem Roman von ihm gelesen zu haben. Die Szene muss den Schriftsteller überwältigt haben.
Infos
Kristine von Soden (Hg.)
Wie schön! – Wie schön! Fischland, Darß und Zingst literarisch
Mit Aquarellen von Georg Hülsse,
Ellert & Richter 2023,
240 Seiten, 25 Euro
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