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Im Spiel der Zeitgeschichte

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Jan Koneffke ist Autor mehrfach ausgezeichneter Romane und Übersetzer. Er lebt in Wien, Bukarest und in den rumänischen Karpaten. © Isolde Ohlbaum

Jan Koneffke erzählt in seinem Roman „Im Schatten zweier Sommer“ über Joseph Roths patriarchalisches Frauenbild, seinen Opportunismus und die Habsburgsympathien – und trotzdem leidet man mit ihm.

Michael Hametner01.04.2024

Seit die Familie des Filmregisseurs G. W. Papst gegen den Verlag von Daniel Kehlmanns Roman Lichtspiel anwaltlich vorgeht, weiß man, dass das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit riskant ist. Kehlmanns Schriftstellerkollege Jan Koneffke spielt das Spiel mit erfundener und verbürgter Biografie von Joseph Roth in seinem neuen Roman Im Schatten zweier Sommer ganz souverän. Während Papst sich von seinem Romanautor fragen lassen muss, ob er ein Sympathisant der Nazis war oder nicht, ist bei Roth schon lange die Frage erlaubt, warum er Anhänger der Habsburger blieb und ihre Schuld am Ersten Weltkrieg hinnahm.

In Koneffkes Roman gehen die Angriffe weiter. Seine Geliebte Fanny fragt sich 1937 im Pariser Exil, ob seine Liebe zu ihr als waschechter Wienerin nichts weiter als die Liebe zum unwiederbringlichen Wien war, dem Roth mit seiner chronischen Krankheit aus Geltungssucht, Anpassungswillen und Versteckspiel verfallen war. Koneffke schafft sich ein Roman Umfeld aus lauter Erfindungen und implantiert den historischen Roth mitten hinein. Das funktioniert und liefert einen wahrlich packenden Roman.

Selbstmord in Raten

Die Erzählperspektive des ersten Romanteils liefert der Großneffe von Fanny. Er stellt vor den Leser eine außergewöhnliche Figur: Jahrgang 1897, Tochter eines sozialdemokratischen Vaters, die schon als Studentin für die Wiener Arbeiter-Zeitung kleine Porträts verfasst, später Lehrerin wird, noch kurz vor dem Anschluss Österreichs ins Exil nach Paris geht, dort den Arzt Maximilian Sasse heiratet, mit ihm nach New York auswandert und nach dem Krieg auf Wunsch ihres Mannes in die DDR geht. Nach dessen frühem Tod kehrt sie zurück in ihr geliebtes Wien und tritt gelegentlich als Besucherin in das Berliner Leben ihres Neffen. Der himmelt sie an, weil sie das graue West-Berlin am Steuer ihres Individualisten-Autos, eines Steyr-Puch in Rot, aufmischt.

In ihren Gesprächen fällt dann eines Tags der Name von Joseph Roth. Bei dem jungen Mann, der selten Romane liest, fällt der Groschen langsam, aber er fällt. Und er erfährt die Liebesgeschichte von seiner Tante mit Joseph Roth. Von Februar bis August 1914, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, den der greise Kaiser Franz Josef als Rache für Sarajewo glaubte, führen zu müssen, war Roth als Student Untermieter bei Fannys Eltern. Sie 17, er 20 Jahre alt. Sie erleben in aller Heimlichkeit ihre erste Liebe. Aber außerhalb der Wohnung gibt Roth Fanny vor seinen Freunden als Verlobte aus.

Wie sie sich entwickelt, wie sie aufblüht, wie sie als Jugendliche erste Höhen und Tiefen der Liebe erlebt und wie sie vom ausbrechenden Krieg abgeschnitten wird, das erfährt der Leser aus Fannys Tagebuch, dem zweiten Teil des Romans. Die Tante, die mit 103 Jahren stirbt, hinterlässt ihrem Lieblingsneffen aber nicht nur das Tagebuch, sondern auch zehn Audiokassetten, auf denen sie vom zweiten Sommer ihrer Liebe erzählt. Diese Erzählung wird der dritte Romanteil. Darin ist zu lesen, wie ein WienBesuch des inzwischen berühmten Schriftstellers in den Wiener Zeitungen gemeldet wird, wie Fanny seinen Vortrag besucht und sich beide 1937 auf ihrer Flucht vor Hitler in Paris begegnen. Sie verbinden die Fäden ihrer Liebe aufs Neue, als hätte es keine Unterbrechung gegeben.

Aber zu diesem Zeitpunkt hat Roths vom Alkohol begünstigter Verfall bereits begonnen. Fanny kann ihn nur kurz aufhalten. Dazu muss sie den Joseph Roth ihres ersten Sommers loslassen und sich im zweiten Sommer ihrem verzweifelten Liebhaber zuwenden. Roths patriarchalischer Geist bleibt noch 1937 am Pariser Stammtisch dem Kaiser treu und bedrängt gleichzeitig mit erschreckender Eifersucht die Frau an seiner Seite. Fanny sieht, wie Roth sich in Raten das Leben nimmt, und sie befreit sich in diesem Sommer von ihm, wendet sich dem Arzt Max Sasse zu. In Paris noch erfährt sie vom Tod Roths und besucht in größter Trauer und tiefem Schmerz sein Begräbnis. Sie bekommt Kontakt zu einem Mitarbeiter des US-Konsulats, der ein großer Verehrer von Roth ist. Für das Überlassen einiger Autografen vermittelt er Visa und Schiffskarten für sie, Max und drei politische Freunde, die durch Hitlers Besetzung von Frankreich in Gefahr sind.

Der Roman endet mit Fannys Erinnerung an Roths Ausspruch: Wenn Europa stirbt, sterbe ich lieber mit! Europa ist für Roth das, was er vor der Tür hatte: den Habsburger Vielvölkerstaat. Im Roman wird er zu einer Utopie non grata. Trotzdem schiebt Koneffke durch sein biografisches und historisches Material die Frage, ob Roths Europa ohne Nationalismus ein Angebot für das Europa von heute sein könnte.

Im Spiel der Zeitgeschichte unmittelbar vor zwei Weltkriegen hat die Liebe von Joseph und Fanny so viele Verletzungen und Entstellungen erfahren, dass beide sie nicht ausgleichen können. Hinzu kommt ihr Jüdischsein. Zwar wollten sie die Spuren ihrer Religion durch Übertritt zum Katholizismus verwischen, aber sie blieben von der Geschichte des 20. Jahrhunderts Gezeichnete. Vermutlich begreift der Leser früher als die beiden Liebenden, dass ihrer Liebe unausweichlich ein Ende bevorsteht. Wie es eintritt, macht den Roman Im Schatten zweier Sommer so mitreißend und berührend wie selten eine Liebesgeschichte in der Literatur.

Ein großer Roman mit enormer Wirkung

Bemerkenswert ist die literarische Form, mit der Jan Koneffke diese Wirkung erreicht. Es hat keine Fanny gegeben, dafür hat es eine Friedl Reichler und eine Irmgard Keun gegeben. Die eine geistig erkrankt, die andere wie Roth dem Alkohol verfallen. Von beiden tauchen nur die Namen auf. Der Autor hatte nicht vor, eine Biografie zu verfassen oder einen dokumentarischen Roman. Er bekennt sich zur Fiktion, in die er von Joseph Roth überlieferte Lebensumstände, aber auch Zitate von Selbstaussagen implementiert. Die Fiktion steht der Wahrhaftigkeit nicht im Weg, ja, möglicherweise ist sie es, die sie erst herstellt.

Schriftstellerkollege Daniel Kehlmann, der jetzt von der Familie des Protagonisten seines Romans Lichtspiel angegriffen wird, hat recht, wenn er sagt: Man kann durch Erfindung das deutlich machen, was man für die erzählenswerte Wahrheit hält. – Aber ein Schriftsteller darf sich über seiner Wahrheit widersprechende Wahrheiten nicht hinwegsetzen. Koneffke tut es mit seiner Methode der Fiktion nicht und hat am Ende mit Im Schatten zweier Sommer einen außerordentlichen Roman geschrieben. Man mag ihn historischen Roman oder Liebesroman nennen. Für beide ist die Wirkung enorm.


Infos

 

Jan Koneffke

Im Schatten zweier Sommer

Verlag Galiani Berlin 2024,

300 Seiten, 24 Euro