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Juni 1991: Wenige Tage nach der Unabhängigkeit Sloweniens zeigt ein Soldat in Lavamünd das Zeichen für Sieg und Frieden. © picture-alliance/dpa/apa

Andrej Blatniks Roman „Platz der Befreiung“ erzählt auf großartige Weise von Sloweniens verpatzter Transformation.

Michael Hametner01.10.2023

Beim Blick auf die Geisteslandschaft von Slowenien steht als Gigant sofort der Philosoph Slavoj Žižek auf der europäischen Bühne. Er ist der große Magier, der Marx und Freud für seine Kapitalismuskritik aufbietet. Aber wer noch? Auf der Bühne der Frankfurter Buchmesse, die Slowenien als Gastland präsentiert, sehe ich Andrej Blatniks Roman Platz der Befreiung im Scheinwerferlicht. Der Autor, Jahrgang 1963, geboren in Ljubljana (Laibach), war erst Bassist einer Punkband und veröffentlichte schon mit 20 erste literarische Texte, heute arbeitet er als Verlagslektor und Schriftsteller.

Sein Roman beginnt durchaus nicht so spektakulär, wie er endet. „Er“ tritt „ihr“ im Gedrängel einer Kundgebung auf die blauen Wildlederschuhe. Erst führt es zur Entschuldigung und dann zu einem Eisessen mit späterer viel weiter gehender Annäherung. Aber so richtig zündet es zwischen beiden nicht, denn er und sie, beide Namenlose, sind nicht so richtig bereit. Zwar kommt es immer wieder zu Rededuellen, bei denen sie ihm wunderbar zusetzt, aber Entschlossenheit sieht anders aus.

Dies ist die eine Seite des Romans Platz der Befreiung, die ihn zur Erzählung von einer verpatzten Liebesgeschichte macht. Keiner will so richtig. Die Frau mit den blauen Wildlederschuhen führt ihn mit Ironie immerfort vor, und er steckt viel zu viel weg. In diesem Teil der Geschichte steckt vielleicht die kleinste Hoffnung auf einen außergewöhnlichen Roman. Die viel größere steckt in der Zeitgeschichte, die aus dem Hintergrund ungeduldig ihre Zeichen sendet.

Aus dem Geist des Punks

Der Roman setzt Ende der 1980er Jahre ein und endet rund drei Jahrzehnte später. Damit ist alles aufgerufen, was in dieser Zeit der Fall war: der Eiserne Vorhang hebt sich, Sloweniens Unabhängigkeitserklärung bekommt 90 Prozent Zustimmung, und als Antwort beginnt ein Krieg gegen den Zerfall von Titos Vielvölkerstaat. Der Krieg, bei dem sich jugoslawische Kampfflugzeuge auf der Suche nach Zielen im kleinen Slowenien bis in die österreichische Steiermark „verirrten“, war nach zehn Tagen vorbei, aber die Transformation Sloweniens setzte danach erst so richtig ein. Damit ist „Platz der Befreiung“ (seit 1991: „Kongressplatz“) auch gemeint, denn er trug in der Geschichte bereits ganz andere Namen. Plötzlich erhält der Generationenroman, worin die Liebegeschichte aufgeht, eine viel bessere Überschrift: Transformation oder Transition. Plötzlich nähert sich Blatniks Platz der Befreiung einem Nationalepos, erzählt aus der Optik der Loser, mithin als Geschichte von unten.

Dieser Weg zu einem furiosen Ende war dem Anfang nicht anzusehen. Da saßen die beiden Namenlosen auf einer Bank am Rande des Platzes, schleckten ihr Eis und trugen zunächst etwas Wikipedia-like zusammen, was sie über den damaligen Namensgeber des Platzes wussten: France Prešeren. Nicht nur größter slowenischer Dichter und Verfasser des Textes der Nationalhymne, sondern auch maßgeblich bei der Einführung der slowenischen Sprache als Verkehrs- und Literatursprache. Er hat sie dem Deutschen gleichgestellt. Slowenien war damals noch zu großen Teilen als Herzogtum Krain K.-u.-k.-Kronland, hatte nach 1918 im jugoslawischen Königtum nur gelitten wie nach dem Zweiten Weltkrieg im Jugoslawien Titos auch, obschon es in dieser Zeit den größten Anteil am jugoslawischen Bruttosozialprodukt erwirtschaftete. In solch einer Situation stehen für eine Nation die Zeichen immer auf Unabhängigkeit. Doch ist die Hauptperson nicht mit jener Energie ausgestattet, die aus der neuen Freiheit etwas zu machen verstünde. Der wahrscheinlich wegen Systemnähe in alter Zeit schon pensionierte Vater treibt ihn zwar immer wieder zu großen Taten in der neuen Zeit an, aber es ist vergebens. Der Sohn wurschtelt sich als Schriftsteller mit ein paar Literaturkritiken gerade so durch. Als eines Tages einer seiner Freunde aus Jugendzeiten ihm das Angebot macht, den korrupten alten Direktor zu ersetzen, hat er nur ein müdes Lächeln zur Antwort.

Mag man bei dem Wort vom Transitionsroman an große historische Bögen denken, dann liefert Blatnik diese eben gerade nicht. Sein Held ohne Namen ist ein Anti-Held, und die Textstruktur – der Autor liefert dessen Geschichte nur in kleinen Skizzen – gibt diese großen Bögen auch gar nicht her. Manchem Leser, der die unvollendete Geschichte der deutschen Einheit als Parallele heranzieht, wird auffallen, dass in der Erzählung diese Jahre in Slowenien nicht den roten Teppich der Friedlichen Revolution ausgerollt bekommen. Blatnik schreibt aus dem Geist des Punks. Ideale haben da keinen Platz, sondern ertrinken in Ironie. Die Frau mit den blauen Wildlederschuhen, die diese als Symbol ihrer Individualität und ihrer Freiheit trug, ist am Ende – also in der Zeit der Gegenwart – spiritualistisch angehaucht und keine Spur mehr sozialistisch. Ihre Zufluchtsstätten vor einer zufälligen Wiederbegegnung mit „ihm“ waren indonesische oder indische Ashrams, wo das Sakralchakra auch schon mal als sexuelles Chakra zelebriert wurde. Und „er“ – inzwischen ohne Vater und Mutter und im Kampf um das Hauserbe – hat der Schriftstellerei Lebewohl gesagt und ist in der Werbung gelandet. Der Postsozialismus hat die Kinder der Revolution gefressen. Das Fazit des Romans ist ein höchst denkwürdiges: Die Helden der Jugend des Autors können sich nicht als Opfer eines großen Gesellschaftsbetrugs ausgeben, sondern sind dessen stille Teilhaber. Wer bei der Verteilung der Ideale nicht widerspricht, muss nehmen, was übrig bleibt.

Ein Humor, der im Hals stecken bleibt

Andrej Blatnik hat einen Roman über die Kinder des Opportunismus in postsozialistischen Zeiten geschrieben. Welch glückliche Wahl für einen Protagonisten, der dem Leser jedes Besserwissen erspart und ihm dafür jede Menge Humor schenkt. Freilich ist es ein Humor, der im Hals stecken bleibt, wie es die Groteske verlangt. Die Sieger der Geschichte sind nicht jene, die sie gemacht haben, sondern die, die an ihr verdient haben. Sie kommen wie ein anonymer antiker Chor am Schluss des Romans zu Wort: „Ein seltsames Land, murmelten sie, ein seltsames Volk. Zu Knechten geboren, zu Knechten erzogen … vorher hatten sie nichts, jetzt haben sie etwas, aber sie sind nicht dankbar, sie singen irgendwelche uralten Protestsongs, als ob das etwas ändern würde.“ Und der letzte Satz der neuen Herren über einen Loser lautet etwas schadenfroh: „Es ist Masochismus, auf Luxus zu verzichten.“ Andrej Blatniks Roman Platz der Befreiung kommt aus einem Land mit kaum mehr als zwei Millionen Einwohnern und verhandelt souverän Europas unvollendete Nachwendegeschichte. Die Frankfurter Buchmesse präsentiert in diesem Jahr als Länderschwerpunkt die Literatur Sloweniens. Andrej Blatniks Roman gibt nur ein Beispiel, wie dieses Land in der Mitte Europas mit seiner Literatur vom Rand unserer Aufmerksamkeit ins Zentrum gewandert ist.


Infos

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Andrej Blatnik © Privat

 

Andrej Blatnik

Platz der Befreiung

Folio Verlag 2023,

250 Seiten, 25 Euro