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Lessing als Kämpfer?

Forum - Lessing als Kämpfer?
Mit weitem Mantel, entschlossenem Schritt und einladender Geste steht Lessing auf dem Judenplatz in Wien. © Mauritius Images/Pitopia

Zum überraschenden Aussehen der Statue von Gotthold Ephraim Lessing auf dem Judenplatz in Wien

Michael Hametner01.02.2023

Wer im 1. Wiener Bezirk den Judenplatz besucht, dem wird beklommen ums Herz werden. Im Museum, das der Geschichte des Judenplatzes gewidmet ist, erhalte ich Auskunft, dass sich im Mittelalter um diesen Platz herum das Zentrum der jüdischen Gemeinde befand. 1421 haben sich an dieser Stelle 200 Juden in der Synagoge eingeschlossen und sie nach dreitägiger Belagerung selbst in Brand gesteckt, um dem Pogrom zu entgehen. Lieber tot als in der Hand ihrer Verfolger. Seit dem Jahr 2000 befindet sich auf dem Platz das Mahnmal für die 65.000 österreichischen jüdischen Opfer der Shoah. Auf dem Judenplatz steht aber auch ein anderes Denkmal, darauf ein drei oder vier Meter großer Lessing aus Bronze. Ich war überrascht, bei einem Gang über den Judenplatz in Wien ganz unvermittelt vor einer Statue des deutschen Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing aus Sachsen zu stehen. Lessing in Bronze auf dem Judenplatz in Wien. Welche Geschichte hat das Denkmal?

Frenetisch gefeiert in Wien

Sie begann bereits vor mehr als 100 Jahren. Den ersten Wettbewerb gewann 1910 der dem Symbolismus zugerechnete österreichische Bildhauer und Steinmetz Franz Metzner. Er, der auch künstlerische Spuren im Leipziger Völkerschlachtdenkmal hinterlassen hat, sah seinen Lessing eher jünglingshaft und sehr in sich gekehrt. Es wäre ein sehr zarter, stiller Lessing geworden. Der Erste Weltkrieg und Metzners Tod verhinderten die Ausführung. Die Unglücksgeschichte des Denkmals nahm jetzt erst richtig Fahrt auf. Ein erneuter Auftrag ging Anfang der 30er Jahre an den Bildhauer Siegfried Charoux. Das Lessing-Denkmal von heute ist aber nicht das, was er damals geschaffen hatte, sondern ein zweites. Die Geschichte dazu erfuhr ich in Langenzersdorf bei Wien, wo es ein Museum gibt, in dem der größte Teil seines Werks ausgestellt ist. Warum begann der lange Weg zu einem Lessing-Denkmal Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien? Lessing, geboren im sächsischen Kamenz, hatte seit 1770 in der Herzog-August-Bibliothek im niedersächsischen Wolfenbüttel seinen Arbeitsplatz. Nun wendet sich der Gedanke der Aufklärung an alle Menschen mit Vernunft. Auch in Wien.

Der große deutsche Aufklärer, der am Ende seines Nathan in der Ringparabel das Existenzrecht aller drei großen Weltreligionen in Toleranz miteinander verbindet, hatte 1775 Wien besucht. Er erlebte hier eine ungeahnt – ungeahnt, weil in Deutschland gleiches nicht stattfand – grandiose Feier seiner Person und seines Werks. Ihm zu Ehren gab es in Wien eine Extra-Vorstellung seines damals neuen Theaterstücks Emilia Galotti. Der Dichter wurde – was er gar nicht mochte – im Theater vom Publikum herausgerufen und begeistert beklatscht. Kaiserin Maria Theresia und ihr mitregierender Sohn Joseph II. waren zugegen und empfingen ihn in Audienz. In Joseph II. hatte Lessing einen überaus großen Menschenfreund vor sich, der sich in den zehn Jahren seiner Regentschaft nach Maria Theresias Tod 1780 als größter Philanthrop und Reformer auf dem Kaiserthron erweisen sollte. Er hätte Lessing gern auf Dauer in Wien in seiner Nähe gehabt.

Ein Denkmal als Wiedergutmachung

Im 20. Jahrhundert dachten sich offenbar die Stadtoberen: Dann soll dies in Bronze geschehen. Fast 20 Jahre nach dem nicht ausgeführten ersten Entwurf erging der Auftrag jetzt an den damals 34-jährigen Wiener Bildhauer Siegfried Charoux. Guss und Sockelbau zogen sich bis ins Jahr 1935 hin, aber da stand Österreich nach der Ermordung seines Kanzlers Dollfuß bereits auf schwachen Füßen bei der Abwehr des deutschen Nationalsozialismus. Es wurde kein guter Start für Lessing in Bronze auf dem Judenplatz in Wien. Am 24. November 1938, Hitler hatte zuvor am 13. März seine österreichische Heimat ins Deutsche Reich geholt, kam schnell die Verfügung, das Denkmal zu demontieren. Charoux sei Jude und das Denkmal eines jüdischen Bildhauers für den Judenfreund Lessing wolle man in Wien nicht. Charoux war kein Jude, aber die Lüge war willkommen. Das Denkmal wurde abgebaut und der Künstler emigrierte nach London.

Nach dem Krieg – vielleicht aus schlechtem Gewissen, die Entfernung des Denkmals nicht verhindert zu haben – erinnerte sich die Stadt Wien wieder an Charoux. Er erhielt den Auftrag für ein neues Lessing-Denkmal. 1968, ein Jahr nach seinem Tod, wurde es an anderer Stelle in Wien eingeweiht und 1981 wieder auf den Judenplatz umgesetzt. Mit dieser Geschichte der Zerstörung der ersten Bronze-Fassung durch Intoleranz und einer zweiten als Versuch der Wiedergutmachung des barbarischen Akts steht Lessing jetzt wieder auf dem Judenplatz und trat mir eines Abends unvermittelt in den Weg.

Lessing bei Tag und Nacht

Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als ich über den Platz lief. Vielleicht war das der Grund, warum ich über die Statue wie über ein Gespenst erschrak. Ich gebe es zu. Beim ersten Anblick wirkte der bronzene Riese beinah martialisch auf mich. In Augenhöhe blickte ich auf Militärstiefel, sah eine Figur, die tief in einem dicken Mantel steckt, vielleicht ein Offiziersmantel, dachte ich. Die Stulpen an den Ärmeln so groß, um darin die Korrespondenz mehrerer Tage verschwinden zu lassen. Mein Blick ging hinauf zu einem – im Vergleich zur gesamten Figur – äußerst kleinen Kopf. Daran ändert auch ein keckes Haarschwänzchen nichts.

Die erste Charoux-Fassung unterscheidet sich von der zweiten in der Grundanlage nicht wesentlich. Der Mantel ist beruhigter, eine Hand stärker flach geöffnet zu einladender Geste, der Ausfallschritt über die Stufe wirkt jetzt wie die Eroberung einer Höhe und ist energischer, dynamischer. Der Künstler, der zwischen aufgewühlt-expressiven Formen und sehr beruhigt-harmonischen wechselte, erscheint mir in der zweiten Fassung stark an Rodin orientiert und sein Lessing überraschend martialisch. War das mein Lessing, wie ich ihn von Abbildungen kannte? Ich betrachtete das Denkmal noch einmal bei Tageslicht. Jetzt leuchtete mir die Idee ein. Der Bildhauer hatte Lessing nicht als feinsinnigen Poeten sehen wollen, sondern als Kämpfer. Meine Assoziation an einen Militärmantel war so falsch nicht. Charoux, der auch den Entwurf für eine Lenin-Skulptur geschaffen hatte, sah die Aufklärung als Ziel eines Kampfes gegen Borniertheit, anhaltende Intoleranz, Menschenverachtung, die sich gerade in der Zeit seines ersten Entwurfs nicht mehr übersehen ließen. Österreich war damals dabei, in den Austrofaschismus abzugleiten. In Langenzersdorf rühmte der Obmann des Museums Charoux als Großen der Bildhauerkunst. Die Lessing-Skulptur nahm er davon aus. Er hielt sie wegen des zu kleinen Kopfes für misslungen. Ich schließe mich dem Urteil nicht an. Ein Kunsturteil ist nie frei von Zweifeln. Was ich erzählen wollte, ist die Geschichte des Lessing-Denkmals auf dem Judenplatz von Wien.