Forum
Neues Lesefutter
Keine Familienromane – trotzdem sind die Hauptdarstellerinnen zwei Mütter und eine liebende Frau
An guten Büchern, die zu lesen lohnt, mangelt es nicht. Sie wollen nur in den Bücherbergen gefunden werden. Ich will ein wenig helfen und die Aufmerksamkeit auf drei Romane richten.
Endlich Eigentum
Vielen Lesern gut bekannt dürfte der Österreicher Wolf Haas sein, vor allem durch seine Figur des Privatdetektivs Simon Brenner, der er in neun Büchern Kultstatus verschaffte. Als ewig grantelnde und chaotische Figur war Brenner ein Original. Mit Eigentum liegt ein neuer Roman von Haas vor. Darin begleitet ein Schriftsteller namens Wolf Haas seine 95-jährige Mutter auf ihrer letzten Reise. Drei Tage bleiben ihr noch bis zum Tod. Die Mutter bittet ihren Sohn, zu den Toten der Familie im Jenseits Kontakt aufzunehmen und ihnen zu sagen: Es gehe ihr gut! In Gang gesetzt wird das Porträt einer Frau des Jahrgangs 1923. Von Inflation, Krieg und Nachkrieg, abgebrochener Ausbildung und früher Witwenschaft. Umstände, die sie bitter gemacht haben. Vermutlich deshalb konnte sie in ihrem Leben mit keinem so richtig. Ihr größter Wunsch war ein eigenes Grundstück. Als sie das Geld zusammenhatte, kostete es das Doppelte. Große Sprünge ließ die Zeit, in der sie lebte, nie zu. Immer bewegte sie sich im Kreislauf von Arbeiten und Sparen, Sparen und Arbeiten. Erst ihr Tod wird ihr den Traum vom eigenen Grundstück erfüllen: zwei Quadratmeter Grabfläche als Eigentum auf dem Friedhof.
Die Erzählerfigur ist ein Schriftsteller namens Wolf Haas. Der hat eine Poetikvorlesung zugesagt und außer dem Titel „Kann man vom Leben schreiben?“ noch keinen Satz auf dem Papier. Dass seine Erzählung des Mutterlebens am Ende die Antwort auf die Frage ist, erweist sich als kluger Einfall des Autors. Aber Erinnerung ist trügerisch. Was die Mutter dem Sohn mit unendlichen Wiederholungen erzählt – entspricht es der Wahrheit? Je mehr Wiederholungen, je weniger Wahrheit, glaubt er. Das Spiel mit der Erinnerung zwischen Mutter und Sohn, die abwechselnd erzählen, gibt dem Sterben auch den Humor mit, den wir schon an der Figur seines Simon Brenner geliebt haben. – Ein Roman von nur 160 Seiten, der uns von Wolf Haas’ Mutter zum Leben unserer Mütter und Großmütter führt und ohne Aufgeblasenheit gut unterhält.
Gegen jede Vernunft
Terézia Mora, 1971 im ungarischen Sopron (Ödenburg) geboren, lebt seit 1990 in Berlin. Mit dem Plot ihres neuen Romans Muna oder Die Hälfte des Lebens dürfte sie vor allem viele Leserinnern provoziert haben. Muna ist eine Frau, die in einer toxischen Beziehung lebt, aber keinen Weg weiß, sie zu beenden. Der Roman verzichtet auf eine längere Anbahnung dieser Obsession, stattdessen erzählt er zunächst von der Mutter. Sie ist Schauspielerin an einem ostdeutschen Provinztheater und alkoholkrank. Als sie versucht, sich das Leben zu nehmen, springt Muna aus dieser schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung in die Liebe zu einem Mann. Sie liebt Magnus bereits, bevor er davon weiß. Die Liebe ist bei Muna ab jetzt einfach da.
Als Magnus im Sommer 1989 zusammen mit Freunden mit dem Fahrrad nach Ungarn aufbricht, kehrt er nicht zurück. Es ist der Sommer der Öffnung des Eisernen Vorhangs. Magnus bleibt für Muna verschwunden, ohne dass sie ihn vergessen kann. Sie beginnt zu studieren, wechselt an die Uni nach Wien, baut sich dort etwas auf, beginnt eine Promotion. Nach sieben Jahren, es ist inzwischen 1996 und sie ist 25 Jahre alt, trifft sie Magnus zufällig wieder.
In diesem Moment ist der Roman fast schon zur Hälfte erzählt. Ab jetzt beginnt ein immer gleiches Muster: bei Muna die große, nahezu bedingungslose Liebe, bei Magnus immer öfter unkontrolliertes Verhalten, das nicht selten in Tätlichkeiten mündet. Natürlich folgen anschließend Scham und Abstand, aber immer auch wieder Versöhnung, die von der Frau ausgeht. Freunde warnen Muna und raten ihr dringend, sich aus dieser Beziehung zu befreien. Aber sie kann es nicht. – Terézia Mora erzählt von einer Verbindung, die gegen jede Vernunft stattfindet. Immer mehr steigert sich für den Leser die Spannung: Schafft sie es, sich von dem Mann zu trennen, oder schafft sie es nicht? War der letzte Absturz endlich der letzte?
Mit ihrem Roman trifft Terézia Mora auf eine gesellschaftliche Situation, in der „Metoo“ und wachsende Frauenpower eine andere Sprache sprechen. Hätte sie dies einfach bestätigt, wäre der Roman sicher nicht halb so aufregend geworden, wie es Muna ist. Die Autorin lässt bei aller auf der Hand liegenden Kritik an der Hauptfigur dem Leser die Möglichkeit des Mitgefühls. – Große Romankunst auf 450 Seiten von der Büchnerpreisträgerin des Jahres 2018.
Gegen die weibliche Passivität
Als völlig unbekannte Romanautorin gewann die Österreicherin Maja Haderlap 2011 mit Engel des Vergessens Leser und Kritik. Ihre Herkunft aus Eisenkappel, dem südlichsten Punkt Österreichs, hatte ihr ein Thema gegeben, das immer noch nicht auserzählt ist. 1920 hatte sich in der Grenzregion zu Slowenien eine Mehrheit für die Zugehörigkeit zu Österreich entschieden, aber Österreichs Versprechungen einer kulturellen und sprachlichen Autonomie wandelten sich bald in eine erzwungene Assimilation. In diese offene Vergangenheit leuchtete Engel des Vergessens hinein. Auf ihren zweiten Roman mit dem Titel Nachtfrauen hatten die Leser zwölf Jahre zu warten. Darin ist die Autorin Schauplatz und Thema treu geblieben, legt den Fokus aber stärker auf Frauenbilder, wie sie diese Region geprägt hat.
Mira reist aus Wien an, um die Mutter darauf vorzubereiten, ihr Haus aufzugeben. Der Sohn ihres Bruders erhebt Anspruch darauf. Plötzlich geraten alte Geschichten in Bewegung. Die Tochter findet auf dem Dachboden im Haus der Mutter Gesprächsprotokolle. Für ihr Soziologiestudium hat sie damals Frauen nach ihren Lebenswegen befragt und viele Gründe für ihr eigenes Verlassen der Heimat gefunden. Miras Mutter bekam nie eine Ausbildung, sie war Näherin und später Köchin. Die große Autorität in ihrem Leben wurde die Kirche, von der sie das Dulden lernte. Für eine emanzipierte Frau wie Mira ist die Mutterwelt ständiger Konfliktherd. Glücklich für beide sind die Momente, in denen Harmonie gelingt. Im zweiten Teil ändert der Roman die Perspektive. Jetzt betrachtet die Erzählung das Leben der Mutter. Dabei wird nicht nur deutlich, wie wenig sie den Prägungen durch die eigene Mutter entgehen konnte, sondern wie sehr sie kurz vor ihrem Lebensende nach einem Ausweg sucht.
Der Roman gilt der Suche der Autorin nach einer Gegenkraft gegen die angelernte weibliche Passivität. In diesen Passagen ist er auf der Spur von Frauenrollen und hat einige Aufklärungsabsichten zu tragen. Aber diese Suche opfert die Figuren nicht, sondern steht ihnen mit Verständnis bei. Maja Haderlap gibt der eigenen Rolle – der Tochter, die es geschafft hat – nicht das Recht der Besserwissenden. Das in einer poetischen Sprache zu lesen ist tief bewegend.
Weitere Artikel des Autors
11/2024
Farbe, Linie, Rhythmus
10/2024
Der Bücherretter
9/2024
Eine Geschichte ohne Happy End
8/2024
Länger, lauter, Meyer
7/2024
„Ich bin diese Person“
6/2024
Kafkas Kosmos
5/2024
Das edelste Grau
4/2024
Im Spiel der Zeitgeschichte
3/2024
Die Geheimnisse der Wiener Villen
Unter allen Umständen
Mehr zum Autor