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Literatur

Phönix aus dem Müll

Literatur - Phönix aus dem Müll
Arno Geiger erhielt für seine Bücher zahlreiche internationale Auszeichnungen. Der Autor lebt in Wien und Wolfurt/Vorarlberg. © Christopher Mavric/Anzenberger

Warum die Lektüre von Arno Geigers neuem Buch "Das glückliche Geheimnis" glücklich macht

Michael Hametner01.04.2023

Was ist das neue Buch von Arno Geiger für eine Textart? Ein Roman ist es jedenfalls nicht. Auf jeden Fall handelt es sich um wunderbares Erzählen, und der Titel spielt nicht aus Gründen der besseren Vermarktung mit dem Wort „Geheimnis“. Auf den knapp 250 Seiten wird wirklich ein Geheimnis aufgedeckt. Das vom ungarischen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész ausgewählte Motto öffnet Geigers Text: „Immer hatte ich ein heimliches Leben und immer war das mein wahres Leben.“ Im Licht dieses Mottos können wir nach der Lektüre unser Leben auf Geheimnisse betrachten. Schade für den, der keines hat. Aber welches Geheimnis gibt der Autor preis?

Der 1968 im österreichischen Bregenz am Bodensee geborene Arno Geiger beendet mit dem letzten Satz seines Buches ein jahrzehntelanges Doppelleben. Bei der Art des Erzählens, dem Einweben von Authentischem aus seiner Biografie, von Titeln seiner Romane oder überprüfbaren Ereignissen, darf man das Vertrauen haben, dass er tatsächlich ein Geheimnis offenbart hat. Er war viele Jahre ein „Vagabund, ein Stadtstreicher, ein Lumpensammler“. Als würde er nachträglich selbst über sein zweites Leben erschrecken, nennt er sich in seinem Buch „ein Niemand und weiter nichts“.

Im Wertlosen findet sich Reichtum

Er lebte doppelt: als zunehmend erfolgreicher Schriftsteller und als gut getarnter Lumpensammler. Was er auf seinen Streifzügen durch Wien sammelte, fand er in Papier-Containern: Bücher in Bananenkisten, Tagebücher, Postkarten, Zeugnisse, Urkunden, Briefe, auch Liebesbriefe. „Glücklich“ nennt er dieses Geheimnis, weil er feststellt, dass im Müll die Wahrheit wohnt. Sie verhilft ihm zur Erkenntnis, dass andere Menschen auch ein kompliziertes Leben führen. Anfangs spürt er durchaus Scham, im Abfall zu wühlen, aber dann ermutigt ihn der Dokumentarfilm Die Sammler und die Sammlerin der französischen Filmemacherin Agnès Varda. Für sie ist das Sammeln eine Kulturtechnik. Ihrem Gedanken folgt Geiger: „Immer fällt irgendwo etwas ab, ein Rest, um den es schade wäre, wenn er verlottern, verrotten oder verschrottet würde. Agnès Varda teilte mir mit, es finde sich auch im Wertlosen ein Reichtum, wenn man nur willens ist, ihn zu suchen.“

Manchmal ist dieser Reichtum ein realer. Einmal findet er ein Bündel lithografierter Postkarten der Wiener Werkstätte. Als er durch Zufall den Besitzer eines Auktionshauses kennenlernt, der die 40 Postkarten in eine Auktion nimmt, erzielt er einen Erlös, von dem der damals noch namenlose Geiger ein halbes Jahr seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Hin und wieder geht er mit seiner Freundin auf den Trödelmarkt, wo sie die gefundenen Bücher anbieten. Oft mit erstaunlichem Gewinn. Aber der wirkliche Reichtum zeigt sich in etwas ganz anderem. Weil er die meisten gefundenen Briefe und Tagebücher liest, öffnen sich ihm fremde Leben, die er an seinem Schreibtisch nie kennengelernt hätte. Die Funde schenken ihm Lebenskenntnis und gleichen – wie er schreibt – seinen Mangel an Gewöhnlichem aus.

Trotz der vielen intimen Einblicke, die ihm die Lektüre des Weggeworfenen gestattet, wertet er sie nicht als Voyeurismus. Er kenne ja die Autoren und ihre Adressaten nicht und werde sie nie kennenlernen. Als er einer Freundin sein Doppelleben beichtet, nennt er zuerst den Gewinn für ihn als Schriftsteller: „Ich berichtete von den zahllosen in den Jahren zuvor gelesenen Briefen und dass ich viel gelernt hätte, sprachlich, denn die Sprache erzähle von ihrem alltäglichen Gebrauch, im Guten wie im Schlechten. Und handwerklich: dass das beherrschende Prinzip im Leben der Menschen die Unordnung sei.“ Eine nicht zu unterschätzende Erkenntnis für alle, die glauben, Leben besäße Logik. Sein Doppelleben lehrt ihn das Gegenteil.

Der Schriftsteller Arno Geiger erhebt sich wie Phönix aus dem Müll, denn 2006 gewinnt er den damals gerade erst geschaffenen Deutschen Buchpreis. Da ist er 37 Jahre jung. Aber nicht nur das. Er gewinnt ihn gegen Daniel Kehlmann und dessen Roman Die Vermessung der Welt, auf den die meisten Kritiker gesetzt hatten. Ich auch. Die Rahmenhandlung von Geigers Siegerbuch Es geht uns gut ist die Entrümpelung einer ererbten Villa, bei der der Enkel auf Vergangenheit stößt, die von Österreichs braun eingefärbter Geschichte kontaminiert ist. Vermutlich hätte der Roman ohne Geigers versteckte Existenz als Lumpensammler nie so geschrieben werden können, wie er geschrieben wurde. Der Preisträger, der danach in Talkshows und Literatursendungen eingeladen und ausgefragt wird, löst sein Geheimnis nicht auf, fürchtet allerdings – weil sein Gesicht durch den Erfolg langsam öffentlich wird –, künftig bei seinen Runden durch Wien erkannt zu werden. Was allerdings nicht passiert. Vorbeugend zieht er die Mütze tiefer ins Gesicht.

Beutezüge durch Wiener Außenbezirke

Der entscheidende Gewinn bei den „Runden“, wie er die Beutezüge durch die Müllcontainer in Wiens Außenbezirken nennt, ist sein Erleben der Macht des Tatsächlichen. Bei einem Seitenblick auf Literatur anderer nennt er jetzt Stilisierung Lüge. Um ihr zu entgehen, hat er für seinen 2018 erschienenen Roman Unter der Drachenwand Tausende Soldatenbriefe gelesen. Die ersten gehörten zu den Zufallsfunden im Müll: Kinderbriefe, Elternbriefe, Behördenbriefe.

Überraschend liefert Geiger ein Argument, warum sein amerikanischer Kollege Philip Roth den erwarteten Nobelpreis doch nicht bekommen hat. Er nennt den 2018 verstorbenen Roth einen, dem „lebend das Leben ausgegangen war und der am Ende Literatur schrieb, die das Lebendigsein nur fingiert“. Das Urteil ist dem Toten gegenüber vielleicht nicht ganz fair. Aber es erklärt, warum sich Geiger auf die Seite von Arthur Schopenhauer schlägt, der in einem seiner gescheiten Aphorismen schrieb: „Daher nun ist die erste, ja, schon für sich allein beinahe ausreichende Regel des guten Stils diese, dass man etwas zu sagen habe.“ Wer das Schreiben zum Beruf macht, kann an den Punkt kommen, wo er nicht mehr weiß, ob er etwas zu sagen hat oder einfach nur schreibt.

Wenn Geiger zur Regelhaftigkeit seiner Anmerkungen übergeht, ist er kühn, gelegentlich etwas eitel, aber trotzdem immer klug. Er urteilt als Besitzer reich gefüllter Speicher, voll von unverstelltem Leben, so wie er es in Tagebüchern und Briefen aufgefunden hat.

Sein Erzählen gibt dem Alltag zwischen Elternhaus und Arbeitszimmer viel Platz. Letztlich sind ihm die Müllabenteuer eine Empathiequelle, die ihn immer noch rechtzeitig aus der Blase der Literatur ins Leben entkommen lässt. Das Sammeln von gelebtem Leben versteht er als eine Menschen-Pflicht. Seine Kritik am Verkümmern dieser Kulturtechnik vermag er in Sprache zu setzen, die nicht stockt, sondern ohne Anstrengung fließt. Alles erscheint bei ihm noch immer wie das Spiel eines fantasiebegabten jungen Mannes, der er war, als er mit seinen Ausflügen in den Papiermüll begann. Das Spielerische macht Das glückliche Geheimnis auch zu einer glücklichen Lektüre.


Infos

 

Arno Geiger

Das glückliche Geheimnis

Hanser Verlag 2023,

237 Seiten, 25 Euro