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Literatur

Stolz und Scham

Literatur - Stolz und Scham
Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Die Autorin lebt in München. © Alessandra Schellnegger/Süddeutsche Zeitung Photo

Lena Gorelik sucht in ihrem Familienroman "Wer wir sind" nach ihrer russischen Seele.

Michael Hametner01.07.2022

Lena Goreliks Roman Wer wir sind ist einer der schönsten, den ich in der letzten Zeit gelesen habe. Schön, was heißt das schon? Es geht darin um den Wechsel von Russland nach Deutschland, um das Aufgeben eines Zuhauses für ein neues. Wenn man das Thema mit dieser Offenheit und Schonungslosigkeit darstellt, wie es Lena Gorelik tut, dann wird man schnell feststellen, dass das Verlassen der Heimat voller Schmerzen und Verluste steckt. Wer erleben will, was dieser Schritt von einer Welt in eine andere bedeutet, sollte diesen Roman lesen.

Lena Gorelik ist 1981 in St. Petersburg geboren und kam 1992 mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Das wenig freundliche Wort „Kontingentflüchtling“ galt dennoch einer humanitären Hilfsaktion, bei der die Bundesrepublik ab 1991 Juden aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten die Aufnahme in Deutschland erleichtert anbot. Zwischen 1991 und 2004 kamen etwas mehr als 200.000 jüdische Zuwanderer nach Deutschland. Darunter auch die damals elfjährige Lena mit ihren Eltern, ihrem Bruder und der Großmutter. Der Vater hatte sich des Weines wegen für Baden-Württemberg entschieden, nicht weil er besonders viel davon trank, sondern weil er glaubte, dass Menschen, die Wein produzieren und genießen, Menschen sind, mit denen sich gut auskommen lässt. Bevor sie sich eine eigene Wohnung im Schwäbischen suchen konnten, war ihr neues Zuhause für mehr als ein Jahr das mit Stacheldraht umgebene Aufnahmelager. Das Wort vom „neuen Zuhause“ bietet das Thema an, aber in Lena Goreliks Roman Wer wir sind war Deutschland noch lange nicht ihr Zuhause. Das war und blieb St. Petersburg, trotz der Erschwernis des Lebens dort liebevoll Pieter genannt. Auf Widersprüche dieser Art wird sich der Leser bei Lena Gorelik einzustellen haben.

Dort Ingenieurin, hier Putzfrau

Das Buch, zwar Roman genannt, bewegt sich dicht an den Erinnerungen der Autorin. Es dürfte weniger um Fiktion gehen, sondern um das Ich-Sprechen als Ausweis von Literatur. Als der Vater sie fragt – die Tochter ist bereits Schriftstellerin –, ob sie Pläne habe, ein neues Buch zu schreiben, antwortet sie: „Ich schreibe nichts. Ich schreibe über dich, über uns. Ich schreibe uns auf, ich erzähle von mir, ich kann dich nicht weglassen, ich bin, weil ihr seid, und wir sind (…)“ Juden im Sinne einer Religionszugehörigkeit waren die Goreliks – wie offenbar viele Kontingentflüchtlinge – in Russland nie. Der Staat verlangte von ihnen, bei Nationalität „jüdisch“ anzugeben, aber sie haben nicht danach gelebt, hatten weder das Bedürfnis noch das Wissen, was sie dafür hätten tun sollen. Lange lagen die Anträge auf Übersiedlung nach Deutschland irgendwo in einem Schubfach. Anders als man es oft in Reportagen über Flüchtlinge liest, hatten Lenas Eltern Angst vor Deutschland und vor dem Westen. Das Nein des Vaters zur Ausreise änderte sich durch ein Erlebnis. In einer überfüllten Metro in St. Petersburg legt ein ihm gegenüber sitzender Mann einen Stiefel auf das Knie des Vaters.

Juden könne man so behandeln, sagt der fremde Mann. – Bei ihrer Ankunft in Berlin bekommt der Vater auf dem Bahnhof, als er für Augenblicke die vielen Gepäckstücke bewacht, von einem Landsmann gesagt, was er falsch gemacht hat: Ihr hättet schon vor zehn Jahren nach Deutschland kommen sollen und nicht mit diesen Bergen von Gepäckstücken, sondern allein mit einer kleinen Tasche mit euren Papieren. Später stellt sich heraus, dass die Papiere – vor allem Zeugnisse und Diplome – nicht nötig gewesen wären, denn sie werden von deutschen Arbeitgebern nicht anerkannt. Mutter und Vater waren in Russland Ingenieure, in Deutschland beginnt die Mutter als Putzfrau. Später lässt sie sich zur Buchhalterin umschulen, der Vater kommt bei einer Zeitarbeitsfirma unter.

Ob das Buch wirklich ein Roman ist oder eine autobiografische Erkundung auf 320 Seiten, dürfte dem Leser nebensächlich erscheinen. Fesselnd ist die Frage der Autorin nach ihrem Gewordensein im Zwiespalt aus Stolz und Scham, Schmerz und Verlust. Alles, was sie als Antwort findet, ist wie mentales Gepäck unsichtbar mit nach Deutschland gereist, bestimmt ihr Denken, Handeln und Fühlen unter den neuen Umständen. Manches noch lange, manches für immer. Die Tochter ist in der Lage – im Gegensatz zu ihren Eltern –, viel mehr alte Prägungen gegen neue auszutauschen. Ihren Kindern, in Deutschland geboren, fällt es noch leichter. Sie haben nicht die Erfahrung der Mutter machen müssen, als Elfjährige den geliebten Familienhund in St. Petersburg zurückzulassen. In irgendeinem Schreiben an die Aussiedler stand: Haustiere verboten. Sie hielten sich daran, andere Familien nicht. Lena Gorelik gesteht sich in ihrem Buch ein, dass sie die Angst vor Obrigkeit auch in Deutschland nie vollständig losgeworden ist.

Begegnung der russischen Seele

Der Fokus des Romans liegt weniger auf diesen Verhaltensprägungen, obwohl sie der Neo-Deutschen mitunter zu schaffen machen. Ein Strang des Erzählens erinnert die Entdeckung des Ichs. Wird auf den ersten Seiten des Buches das Ich als etwas gepriesen, zu dem sich zu bekennen es Mut braucht, so hat der Gang durch das Leben noch ein anderes Ziel: Er führt zur Familie, zu der, die man um sich herum hat, und zu jener, von der nur Schatten anwesend sind, den Toten. Lena Gorelik bringt aus ihrem Leben in Russland – und seien es auch nur elf Jahre gewesen – ein für Deutsche doch wohl anderes Bild von Familie mit: „Ich erzähle mich, und das Wissen, dass es mich nicht ohne uns gibt. Ich kralle sie mir, diese Geschichte, obwohl und weil sie nicht mir gehört.“ Dieses Erzählen ist tief berührend. Die Geschichte vom Onkel, der sich im Meer das Leben genommen hat, die Liebe der Großmutter, die ihre Enkelin auf der Datsche behütet und versorgt hat, obwohl der krebskranke Mann zu Hause sie auch gebraucht hätte, und vom anderen Großvater, der als Soldat im Großen Vaterländischen Krieg erschossen wird, als er unterwegs ist, um sein neugeborenes Töchterchen zu sehen.

Was Lena Gorelik in ihrem Roman an Werten ihrer Herkunft entdeckt und in kleinen Binnenerzählungen aufdeckt, verschafft dem Leser das Gefühl, der russischen Seele zu begegnen. Gorelik ahnt, dass sie diese wie eine Mitgift in ihrem neuen Land behandeln muss, wo vieles pragmatischer und viel stärker an realen Werten ausgerichtet abläuft. Man hätte gerade diese Feststellung über die Deutschen für ein überbeanspruchtes Klischee halten können, stünde die Sprachkunst der Autorin nicht dagegen. An vielen Stellen des Romans führt die Autorin vor, dass das Russische für vieles, nicht zuletzt für Gefühle, oftmals die reichere Sprache ist. In dieser Feststellung liegt der Schmerz der Autorin, dem sie sich nicht überlassen will. Der Widerstand begründet auch, dass viele der russischstämmigen Schriftstellerinnen – Alina Brondsky, Olga Martynowa, Eleonora Hummel und die gerade mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnete Katerina Poladjan – die deutsche Sprache aufweiten und bereichern.

Aus dem Übersiedlerroman Wer wir sind ist bei Lena Gorelik ein staunenswerter Familienroman geworden, der von der russischen Seele erzählt. Über die Vorstellung dieses Buches hinausgeblickt, drängt sich ein anderer Gedanke auf: Die Epoche, in der wir leben, ist die eines Krieges, den russische Truppen führen und der für lange Zeit vieles zerstört. Auch bei denen, die den Krieg führen. Der Roman hinterlässt die Hoffnung auf eine unzerstörbare Seele.