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Vier Tage im April
Die Leipziger Buchmesse hat nach drei Jahren Unterbrechung durch Corona wieder in die Spur zurückgefunden – Michael Hametner hat sich davon überzeugt.
Deutschland hat zwei Buchmessen: die Frankfurter und die Leipziger. Die Frankfurter im Herbst für das Herbstprogramm, die Leipziger im Frühling für das Frühjahrsprogramm. Als das Land noch geteilt war, mochte das hingehen, aber nach der Wiedervereinigung 1990 – brauchte Deutschland da noch alles doppelt? Manches schon! Für die Leipziger Buchmesse ging’s nach 1990 erst richtig los. Ein neues Messegelände mit einer riesigen Glashalle in der Mitte entstand vor den Toren der Stadt. Jedes Jahr meldete Leipzig einen neuen Besucherrekord. Die vier Tage Buchmesse im März jeden Jahres und das gleichzeitige Lesefest „Leipzig liest“ zogen zuletzt 286.000 Besucher an. Eine einzigartige Erfolgsgeschichte! Aber dann fiel vor drei Jahren Corona in unser Leben ein und machte nacheinander einen Strich durch drei Buchmessen in Leipzig. In diesem Jahr, erstmals vom März an das Ende des April verschoben, gab es ein Happy End: Gerade ist die Leipziger Buchmesse mit einem beachtlichen Erfolg zu Ende gegangen.
Hat die Leipziger Buchmesse nach drei Jahren Absage noch an die Veranstaltung geglaubt?
Oliver Zille: Unbedingt. Die Branche braucht und sucht die Leipziger Buchmesse. Sie wurde ja nicht aus inhaltlichen Gründen ausgesetzt, sondern weil die Rahmenbedingungen es nicht zugelassen haben.
Oliver Zille ist einer der Väter dieses Erfolgs. Er ist seit 2004 Direktor der Buchmesse. Schon in der Stunde der deutschen Einheit hat er begonnen, die Buchmesse in Leipzig in Abgrenzung zu Frankfurt neu zu erfinden. Sein Gedanke war eine Messe für Leser. Zusammen mit Gleichgesinnten vom Club Bertelsmann entwickelte er das Lesefest „Leipzig liest“. Fragt man, wie sich die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt unterscheiden, dann lautet die Antwort: Frankfurt ist eine Messe zum Verkaufen und Leipzig eine fürs Publikum. Deshalb ist in der Tat der Gedanke, dass Frankfurt als größerer Bruder im Herbst Deutschlands einzige Buchmesse wird, schlicht falsch.
Ist es das Zauberwort von der Publikumsmesse, das Leipzig gerettet hat?
Oliver Zille: In Leipzig sind Autoren und Publikum endlich wieder vereint. Hier lernen sich Menschen kennen, die sich im normalen Leben vielleicht nie begegnet wären. Man stolpert aber auch über Themen, Stoffe, Bücher, auf die man sonst vielleicht nie aufmerksam geworden wäre.
Die Lust auf Bücher ist im Alltag außerhalb der Messe nicht immer ungetrübt. Aber wenn wir auf die Leipziger und Frankfurter Sonntage für das Buch blicken, dann wird einem als Bücherfreund warm ums Herz. Auch nach drei Jahren Zwangspause war Leipzigs Innenstadt abends wieder eine einzige Lesebühne. Man sah Hunderte von Lesern, meist Leserinnen, die durch die Straßen zum nächsten Leseort zogen. Oft mit aufgeschlagenem Programmheft in der Hand oder mit fragendem Blick an den Entgegenkommenden: Was empfiehlst du uns? Oder mit der besorgten Nachfrage: Meinst du, dass wir noch Platz bekommen? Rund 2400 Veranstaltungen – viele an ungewöhnlichen Orten – standen zur Auswahl. Im Apothekenmuseum an der Thomaskirche, im privaten Literatursalon der Familie Pöge in der Mozartstraße, im holzgetäfelten Saal des Landgerichts. Die Österreicher, die in diesem Jahr den Länderschwerpunkt boten, hatten den Szenetreff „Schaubühne Lindenfels“ zur Messehalle gemacht, im voll besetzten Saal des Schauspielhauses befragte Giovanni di Lorenzo Bundeskanzlerin a. D. Angela Merkel, und Judith Hermann, Eugen Ruge und aus Österreich Milena Michiko Flašar lasen während der Messetage im Leipziger Literaturhaus.
Auf Buchmessen gibt sich das Buch als etwas zu erkennen, das es zweimal gibt: als Ware und als Kulturgut. Beim abendlichen „Leipzig liest“ wird der Wert des Buches daran gemessen, was darin steht, ob es fesselt, ob es einen auf noch nie gedachte Gedanken bringt und ob es die Welt etwas durchschaubarer macht. Wenn tagsüber die Kaufleute in den Messehallen darauf schauen, was man mit dem Buch verdienen kann oder muss, dann entscheidet sich abends bei „Leipzig liest“, was tatsächlich von den Lesern gekauft wird. Beides zusammen macht die glückliche und einmalige Mischung der Leipziger Buchmesse aus.
Hat das Lesefest „Leipzig liest“ die Buchmesse gerettet?
Oliver Zille: Bücher brauchen Sichtbarkeit, Autoren brauchen Ermutigung. Ohne diese weltweit einzigartige Weitung der Messe durch „Leipzig liest“ in die Stadt hinein wäre die Buchmesse generell nicht das, was sie ist: auch ein großes, buntes Fest, das mit all seinen Veranstaltungen Literatur zum Leuchten bringt und die Vielfalt, Kreativität, Individualität und Verbundenheit der Welt der Bücher verkörpert.
Direktor Oliver Zille bekommt mit den neuen Büchern alle Themen ins Haus. Seine Aufgabe ist es, für sie Bühnen, Foren, Auftrittsorte zu schaffen. Das rare Gut der Aufmerksamkeit zeigte sich an den vier Tagen mit der Erfahrung von 20 Messen, denen er vorgestanden hat, geschickt verteilt. Und immer wieder im Blick: der Lese nach wuchs. Fragt man, wo die Jungen unter den Lesern bleiben, fallen die Antworten höchst verschieden aus. Abgesehen von den Manga-Enthusiasten, die mit Kostümen ihrer Lieblingsfiguren das Bild in den Messehallen bunt machen, sah ich viele junge Leute unter den Besuchern. Zugegeben: Verlässt man die Insel der Seligen, sprich: die Buchmesse, steht es um den Lesenachwuchs nicht immer gut. Die einen lesen viel, die anderen gar nicht. Aber schon manchen hat ein Besuch der Leipziger Buchmesse überzeugt, dass Lesen glücklich machen kann. Man sollte nur nicht verschweigen, dass 400, 500 und mehr Seiten dicke Bücher auch ein wenig Mühe bereiten. Aber bei Herr der Ringe und Harry Potter hat es doch auch geklappt.
Das helle Lachen in der Halle der Manga-Comic-Con soll nicht vergessen machen, dass es viele ernste Themen in der Welt gibt. Der russische Angriffskrieg und das Klima sind die beiden wichtigsten, und sie waren es auch auf der Leipziger Buchmesse. Darüber dürfen die grellen Farben der Kostüme nicht hinwegtäuschen. Das Lachen der jungen Manga-Mädchen und -Jungs, die unermüdlich für Selfies posen, und die Lautsprecherdurchsagen, die irgendwo in Halle 4 ein neues Event ankündigen, lagen über den Stimmen der Sorge und der Angst.
Hat das Thema des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auf der Messe eine Rolle gespielt?
Oliver Zille: Wir haben Zeichen gesetzt, indem wir wichtigen Stimmen eine Bühne gegeben haben. Dabei hat sich unsere Partnerschaft mit dem Goethe-Institut, dem Buchinstitut Kiew und weiteren Akteuren in unserem Netzwerk ausgezahlt. Es gab mehr als 40 Veranstaltungen, die ihren Blick auf die Ukraine mit Themen wie Erinnerungskultur, Rolle der Frauen im Krieg, Dekolonialisierung der Kultur und Überleben der Institutionen gerichtet haben.
Nach drei Jahren Zwangspause für die Leipziger Buchmesse beherrschten alle wie selbstverständlich ihren Part: Autoren, Buchhändler, Verlagsmitarbeiter und Leser. Ach so, wir von den Medien auch. Das war an den vier Apriltagen in Leipzig zu erleben. Wieder anzuknüpfen an das, was war, ging leichter, als ich gedacht hatte.
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