Literatur
Wieder ein Migrations-Roman …
… aber mit besonderem Hintergrund. Elina Penner erzählt in Nachtbeeren auch von Schicksal und Kultur der Mennoniten.
Es ist ein Roman zu empfehlen aus doppeltem Grund. Elina Penner erzählt in ihrem Erstling Nachtbeeren die Geschichte ihrer Migration und sie erzählt vom Schicksal russischer Mennoniten. In beiden Fällen sind es ihre eigenen Geschichten. Was ich vor der Lektüre über Mennoniten wusste, war sehr wenig, nicht viel mehr als die Bedeutung des Namens. Vielleicht geht es vielen Lesern des Rotary Magazins ähnlich. Deshalb möchte ich Nachtbeeren auf diesen Seiten vorstellen.
Tiefer Blick in die mennonitische Seele
Migration ist für uns nur ein Wort. Für alle, die sie auf sich genommen haben oder denen sie ermöglicht wurde, ist sie ein lebensentscheidender Schritt, der mehr als eine Generation prägen wird. Gemeint ist die Erzählung vom Zurücklassen einer geliebten oder von Diktatur und Krieg verbrannten Heimat und das Ankommen in einem fremden Leben, das oft nur allmählich an Fremdheit verliert. Ein bis heute strahlender Roman über dieses Thema ist Herkunft (2019) des gebürtigen Bosniers Saša Stanišić. Von den aus der ehemaligen russischen Sojus stammenden Schriftstellerinnen (es sind fast alles Frauen, die darüber schreiben – warum?) sind es Sie kam aus Mariupol der Ukrainerin Natascha Wodin, Eleonora Hummels Die Fische von Berlin und Lena Goreliks – geboren 1981 in Leningrad – großartiger Roman Wer wir sind, den ich den Rotary Magazin-Lesern im Juli-Heft vorgestellt habe.
Auf diesen Spuren wandelt auch die 1987 in der Sowjetunion geborene Elina Penner. Sie erweitert in Nachtbeeren das Thema der Migration durch die Erzählung über das Schicksal russischer Mennoniten. Nelli, die Hauptfigur des Romans, ist eine Mennonitin, die als kleines Kind mit ihren Eltern und vier Brüdern im Strom der Russlanddeutschen nach Deutschland gekommen ist. Mennoniten spielen bei Penner durchweg die Hauptrolle. Das macht den Roman zu einer wichtigen Aufklärung über Kultur und Schicksal russischer Mennoniten. Bis heute ist Russland – neben Kanada, Lateinamerika, dem zentralamerikanischen Belize und jetzt auch Deutschland – ein wichtiger Lebensort für mennonitische Groß-Gemeinden.
Hat Nelli ihren Ehemann getötet?
Durch von der Lektüre des Romans angeregte Recherchen weiß ich jetzt, dass Mennoniten Mitglieder einer evangelischen Freikirche sind, gegründet in der Zeit der Reformation, die sie sich noch radikaler wünschten. Sie wollten weniger oder keine Kirchenhierarchie und dafür mehr Selbstbestimmung. Das beginnt für sie bereits bei der Taufe, weshalb Mennoniten auch als Täufer bezeichnet werden. Bei ihnen gibt es nicht die Taufe der Neugeborenen, sondern die Gläubigentaufe als bewusste Entscheidung der Erwachsenen. Das brachte ihnen an vielen Orten der Welt Verfolgung ein. Von den rund 2,2 Millionen russlanddeutschen Aussiedlern haben in Deutschland immerhin etwa 200.000 einen mennonitischen Hintergrund, wovon wiederum 40.000 in größeren Gemeinschaften der Mennonitischen Kirche angehören. Als Nelli – zusammen mit ihrem Bruder Eugen und ihrem Sohn Jakob ist sie die Erzählerin – mit Stolz berichtet, was Menschen mit mennonitischer Herkunft in Deutschland geworden sind, fällt auch der Name Helene, gemeint ist der Schlagerstar Helene Fischer, deren Vorfahren zu den Schwarzmeerrussen gehörten und die wiederum zu den Mennoniten.
Die Hauptfigur Nelli lässt sich taufen, als ihre über alles geliebte Großmutter stirbt. Ein großer Schmerz in ihrem Leben war die Trudarmee, ein von Stalin in den Jahren des Krieges geschaffenes System der Zwangsarbeit, vor allem für russlanddeutsche Frauen und Männer. Nelli versucht den Verlust ihrer Großmutter durch Halt in der mennonitischen Gemeinde zu ersetzen. Sie erlebt sich als Außenseiterin und flüchtet sich unter den Schutz ihres Glaubens. Im Kreis ihrer vier Brüder wurde sie als zuletzt geborenes Mädchen nicht das Nesthäkchen der Familie. Ihr Bruder Eugen sagt es so: „Lottogewinn wäre eine Überraschung gewesen. Fünftes Kind mit 40 war nichts als ein Unfall.“
Nelli wusste von der ersten Sekunde an, dass sie nicht gewollt war. Sie verweigerte das Essen, versteckte sich, wenn sie weinen musste, gab dem Werben des erstbesten mennonitischen Mannes nach, wurde mehrmals schwanger, konnte jedoch nur ihren Sohn Jakob gesund zur Welt bringen. Gelernt hatte sie den Beruf einer Fleischerin, übte ihn jedoch nie aus, weil Frauen in der mennonitischen Tradition nur Gehilfinnen ihrer Männer sein können. Ihre Demut entlohnte ihr Mann ihr nicht. Eines Tages teilte er ihr mit, er werde sie für eine andere Frau verlassen. Kurz darauf findet Jakob seinen Vater zerlegt in Portionen in der Tiefkühltruhe.
Das Erzählen bewegt sich über 250 Seiten auf die Klärung der Tat zu: Hat Nelli ihren Ehemann getötet? Nelli selbst weiß es nicht mehr. Die Ausnahmesituation, in die sie die Nachricht vom Ende ihrer Ehe versetzt hat, hat ihr die Sinne getrübt. Am Ende des Romans gibt es eine mögliche Antwort (durchaus keine sichere), die hier nicht vorweggenommen werden soll.
Echte Mennoniten sprechen Plautdietsch
Die Dramaturgie des Romans ist weniger von einer Handlung bestimmt als von dem Versuch, sich zu erinnern, was am letzten Abend vor dem Tod des Mannes geschehen ist. Immer wenn dieser Versuch ansetzt, schweift das Erzählen ab zum Leben in der ostwestfälischen Kleinstadt. Wie unterscheiden sich hier Russen von Mennoniten? Wie Mennoniten von „Kartoffeln“, womit die Deutschen gemeint sind? Ab wann haben die Russinnen damit begonnen, ihre Goldzähne durch keramische zu ersetzen? Und warum kommen sie sonntags geschminkt in die Kirche? Beides, die Aufklärung eines grausamen Mordes und die Schilderung des Alltags einer mennonitischen Frau in deutscher Umgebung, ist in der literarischen Umsetzung nicht gleichgewichtig. Im Roman steht die große surreale Geste neben der kleinen Handbewegung im Alltag einer Migrantin. Das passt schwerlich zusammen. Aber vieles an kritischen Einwendungen heben die Einblicke in Kultur und Schicksal der Mennoniten auf. Dem Leser begegnet diese Kultur auch in der verwendeten Sprache. An vielen Stellen erscheinen plautdietsche Wendungen. Plautdietsch ist die Sprache der „echten“ Mennoniten in der Welt. Immerhin sollen es eine halbe Million Menschen sein, die diese Variante des Niederdeutschen weltweit aktiv sprechen. Dass Elina Penner diese Sprache aufleben lässt, ist ihr bereits 2020 mit dem Arnold-Dyck-Preis der Freunde des Plattdeutschen gedankt worden. Und was den Roman empfiehlt, ist die Begegnung mit einer Welt, die mir, bis ich Nachtbeeren las, verschlossen war.
Infos
Elina Penner
Nachtbeeren
Aufbau 2022,
250 Seiten, 22 Euro
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