Interview
„Extrem Nachholbedarf in digitaler Bildung“
Unternehmen sind laut Dieter Kempf, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, beim Thema Digitalisierung gut aufgestellt. Die Menschen nur zum Teil
Wenn sich vom 21. bis 23. September dieses Jahres beim Rotary Institute in Nürnberg internationale Experten zu „Auswirkungen der weltweiten Digitalisierung auf die humanitären Dienste von Rotary“ austauschen, ist auch der Präsident der Deutschen Industrie (BDI), Dieter Kempf, dabei. Er wird den Samstagvormittag mit einem Vortrag zum digitalen Umbruch in Wirtschaft und Gesellschaft eröffnen, bevor Vorträge zu konkreten Beispielen des Einsatzes digitaler Methoden bei der Arbeit der Weltgesundheitorganisation, „Ärzte ohne Grenzen“, der Weltbank sowie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung folgen.
Dieter Kempf, Jahrgang 1953, pendelt zwischen seinem Wohnort in Nürnberg und dem BDI-Büro in Berlin. In München geboren und aufgewachsen, hatte er in den 1970er Jahren in seiner Heimatstadt Betriebswirtschaftslehre studiert und 1991 bei dem Softwareunternehmen Datev eG in Nürnberg angefangen. Bis 2016 hatte er die Genossenschaft zuletzt als Vorstandsvorsitzender zu einem der größten IT-Dienstleister Europas aufgebaut.
Zwischen 2011 und 2015 war Kempf außerdem Präsident des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom), bevor er zum Beginn des Jahres 2017 die BDI-Präsidentschaft übernahm. Das Thema Digitalisierung zieht sich durch sein berufliches Leben. Trotzdem stapelt sich auf seinem Schreibtisch in Berlin regelmäßig die Post in Papierform – „trotz Digitalisierung“, scherzt er. Persönlicher eingerichtet sei das Büro in seinem Wohnhaus. Neben Familienbildern habe er dort eine seiner Gitarren stehen: „Ab und an werde auch ich des Arbeitens überdrüssig und greife dann zur Entspannung mal in die Saiten.“
Herr Kempf, ist die deutsche Industrie beim Thema Digitalisierung gut aufgestellt?
Ich bin da ganz positiv gestimmt. Bei Themen wie dem Internet der Dinge oder Datenplattformen im industriellen Bereich sind wir sehr gut aufgestellt. In der deutschen Wirtschaftslandschaft entwickelt sich vieles sehr gut.
Kann Deutschland denn im weltweiten Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben, obwohl hierzulande nicht einmal jederzeit überall schnelles Internet verfügbar ist?
Beim Breitbandausbau müssen wir tatsächlich extrem nachlegen. Die Bundesregierungen der vergangenen Legislaturperioden haben sich immer Ziele gesetzt, die sie konsequent verfehlt haben... Das Prinzip des marktwirtschaftlichen Ausbaus wird mit den bisherigen Ausschreibungsmethoden immer „weiße Flecken“ im Land mit sich bringen, wo es keine stabile mobile Internetverbindung gibt.
Deshalb muss es bei der bald anstehenden Ausschreibung für das 5G-Mobilfunknetz zu einer flächendeckenderen Versorgung mit gleichzeitigem Ausbau des Glasfaserbereiches kommen. Da sind alle gefragt, die Unternehmen, aber auch die Kommunen. Aber auch andere Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden: Wir brauchen alternative Tiefbauverlegungsmethoden, denn aktuell sind die Tiefbaukosten das Teuerste am Glasfaserausbau.
Das „Handelsblatt“ urteilte kürzlich: „Die Wirtschaft ist in Transformation, die Politik im Stand-by-Modus“. Wie beurteilen Sie die Digitalstrategie der Bundesregierung – und deren Umsetzung bislang?
Manche Formulierungen im Koalitionsvertrag sind missverständlich. Die Digitalstrategie nennt aber die richtigen Themen. Politik sollte grobe Ziele für die Zukunft setzen. Deren Umsetzung jedoch den Experten überlassen werden. Es sollte nie zu detailliert etwas festgelegt werden, das am Ende gar keinen Sinn macht oder gar nicht möglich ist. Extremen Nachholbedarf haben wir in der Bildungspolitik.
Da tun sich viele schwer, zu akzeptieren, dass die digitale Souveränität eine der wichtigsten Kompetenzen der nächsten Generationen sein wird. Ab der Sekundarstufe muss sie im Unterricht vermittelt werden. Es geht nicht darum, „Kinder-Programmierer“ zu züchten. Der Umgang mit digitalen Medien will gelernt sein. Dazu müssen neue Technologien fächerübergreifend im Unterricht genutzt werden. Geschichte beispielsweise lässt sich mit Virtual Reality oder elektronischen Museumsrundgängen wunderbar vermitteln. Das Whiteboard darf nicht das Ende der Technologisierung von Schule sein.
Deutschland in 20 Jahren: Welche Vision haben Sie von einem rundum digitalisierten Alltag? Partiell wird die analoge Welt verschwinden – und zwar überall dort, wo mit dem Einsatz digitaler Möglichkeiten Dinge erleichtert werden. Das Tätigkeitsspektrum mancher Berufe wird sich verändern. Angst vor der Digitalisierung, meist vor dem Kontrollverlust, muss durch Bildung aus der Welt geschafft werden. Aktuell ist das Thema Künstliche Intelligenz besonders mit Ängsten belegt. Vielfach wird sie gleichgesetzt mit sich verselbständigenden humanoiden Robotern, die sich irgendwann gegen uns wenden. Das jedoch ist ein Verkennen des Themas.
Beim Thema Sozialkontakte könnte man ja denken, es wüchse gerade eine ganze Generation heran, deren soziale Kontakte ausschließlich im Netz stattfinden. Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich das ausbalancieren wird. Sind wir ehrlich: Analoge Kontakte machen einfach mehr Spaß. Das merke ich auch bei Rotary. Andererseits nutze ich gern die digitalen Möglichkeiten der Kommunikation. Meine 85-jährige Mutter lasse ich an meinem Leben teilhaben, indem ich ihr Bilder und kurze Notizen schicke. Das geht schnell und macht nicht so viel Mühe wie einen Brief zu schreiben. Das Optimum wäre für mich eine vernünftige Balance der digitalen Möglichkeiten in Zusammenspiel mit der analogen Welt.
Wonach entscheiden Sie, was Ihnen da wichtig ist – und was nicht?
Ich benutze die digitalen Möglichkeiten situativ. Man muss nicht alles machen was geht. Privat entscheide ich die meisten Dinge sehr spontan. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem man nicht mehr auf langfristige Strategien setzen muss. Ich kann mich vom Gefühl leiten lassen. In beruflichen Entscheidungen höre ich mir viele unterschiedliche Meinungen an, treffe dann aber gerne allein die Entscheidungen. Ich stehe dazu, dann auch die Folgen zu tragen. Um mich herum erlebe ich in den letzten Jahren viel zu oft Entscheider, die Angst vor Entscheidungen haben, die Kommissionen bilden, Entscheidungen abwälzen auf Referenden und so weiter. Ich finde, es gilt: Lieber schnell als tausend Mal gewendet.
Aus Fehlern lernen – funktioniert das?
In jedem Fall. Aus Fehlentscheidungen lernt man am meisten. Als Lernziel sollte man diese Tatsache jedoch nicht umkehren. Die Kunst ist, Weichen, an denen man das letzte Mal falsch abgebogen ist, beim nächsten Mal anders zu stellen. Das gelingt mir nicht immer. Aber auch das gehört zum Leben.
Sie sprachen die Veränderungen im Umgang mit sozialen Kontakten an. Inwiefern sehen Sie Digitalisierungspotenzial für Organisationen wie Rotary, die ja auf den analogen Austausch zwischen Menschen setzen?
Da habe ich viele Ideen, zum Beispiel gibt es sehr gute Möglichkeiten beim Fundraising auf Basis moderner digitaler Plattformen. Die Digitalisierung der Clubs muss sicherlich sehr behutsam angegangen werden. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass gerade bei den Bestandsclubs vielfach zurückhaltend auf neue Formate wie virtuelle Meetings reagiert wird. Ich setze da eher auf neugegründete Clubs. Es ist immer leichter, Dinge von Anfang an anders zu tun als sie im Laufe der Zeit zu ändern.
Kann denn jeder einzelne die Digitalisierung in der Gesellschaft aktiv mitgestalten?
Digitalisierung hat viele unterschiedliche Komponenten: die Digitalisierung von Produkten, die Digitalisierung von Prozessen, das Nutzen digitaler Plattformen und viertens, sich selbst in der digitalen Welt zu bewegen. Diese vier Punkte sollte jedes Unternehmen, aber auch jeder Mensch für sich analysieren. Im Unternehmen wird gefragt: Habe ich ein Produkt, das sich digitalisieren lässt? Lassen sich einzelne Produktionsschritte digitalisieren? Kann ich mich auf Plattformen mit meinen Kunden austauschen? Dann müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Mit dem gleichen Prüfschema kann man auch im Privatleben vorgehen. Und letztendlich das eigene Leben bequemer machen, optimieren und für die Zukunft gestalten.
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