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Bessere Chancen durch eine größere Vielfalt

Für ein flexibleres Europa

Herfried Münkler12.11.2012

Die Dinge laufen nicht gut in Europa – und dabei ist die andauernde Krise der Gemeinschaftswährung bloß die Spitze des Eisbergs. Das politisch verfasste Europa ist in eine Selbstblockade geraten, aus der es sich offenbar nicht mehr zu befreien vermag. Zwar hat es auch früher schon europäische Selbstblockaden gegeben, aber da hat deutsches Geld genügt, um wieder herauszukommen. Verglichen mit den heutigen Problemen handelte es sich dabei im Übrigen um überschaubare Beträge, die durch Helmut Kohls sprichwörtlich gewordenes Scheckbuch gedeckt wurden. Und weil die Deutschen für ihre Wiederaufnahme in den Kreis der Völker Europas nicht nur dankbar waren, sondern wirtschaftlich davon auch profitierten, regte sich gegen diese „Politik des finanziellen Ausgleichens“ hierzulande kein nennenswerter Widerstand. So wurden europäische Kompromisse immer wieder möglich, wenn Geld aus Deutschland in den Aushandlungsprozess eingespeist wurde. Für die anderen war das kommod, und sie haben sich daran gewöhnt.

Ausgeschöpfte Spielräume

Dass diese Form der Kompromissbildung nach immer neuen Erweiterungsrunden der EU an ihre Grenzen stoßen würde, hätte wohl jedem Verantwortlichen klar sein müssen. Irgendwann mussten die politischen und finanziellen Spielräume der Deutschen erschöpft sein. An diesbezüglichen Warnungen und Alternativvorschlägen hat es nicht gefehlt. Aber im Wettlauf mit den teils selbstgesetzten, teils von außen herangetragenen Zeitplänen für den weiteren Fortgang der Integration war keine Zeit, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. Und dann kamen auch noch die fehlgeschlagenen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden dazwischen. So ist das verfasste Europa aus einem Knäuel von Kompromissen und Widersprüchen entstanden, das für politisch günstige Konstellationen bei einer guten Wirtschaftskonjunktur hinreichend, zur Bewältigung von Krisen aber ungeeignet und zur Reform dieser Mängel unfähig ist.

Die unter dem Eindruck der Fiskalkrise angelaufene Debatte über eine Reform der europäischen Institutionen zeigt den desaströsen Zustand der Europäischen Union: Deutschland und einige kleinere Staaten propagieren „mehr Europa“, womit die Stärkung der Kommissionsbefugnisse und wohl auch des europäischen Parlaments gemeint ist. Aber wo auch immer Berlin dabei den Hebel ansetzt: Die Vorschläge für stärkere Durchgriffs- und Kontrollbefugnisse der europäischen gegenüber den nationalen Institutionen sind nicht mehrheitsfähig. Frankreich, der zweite große Akteur in der Reformdebatte, will grundsätzlich an seinen Souveränitätsrechten festhalten und kann sich eine Stärkung Europas nur auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs vorstellen; die Briten schließlich wollen nationale Rechte, die sie an Europa abgetreten haben, wieder zurückholen und damit die europäische Zentrale schwächen. Italien und Spanien wiederum sind durch ihre politischen Krisen und wirtschaftlichen Turbulenzen derart paralysiert, dass sie an der Reformdebatte überhaupt nicht teilnehmen. Zu einem Zeitpunkt, da dringlicher Handlungsbedarf besteht, ist das verfasste Europa politisch handlungsunfähig.

Das Problem Europas ist, dass der Integrationsprozess nach dem Modell des Nationalstaats geplant und prozediert worden ist, der Nationalstaat aber auf politischen und sozio-kulturellen Voraussetzungen beruht, die für Europa nicht gegeben sind und von denen auch kaum einer will, dass sie auf längere Sicht durchgesetzt werden. Erkundigt man sich nämlich nach den Besonderheiten Europas, so wird ein ums andere Mal auf die Vielfalt der Kulturen und Mentalitäten verwiesen, die den Charme Europas ausmache. Sollte das mehr sein als belangloses Gerede, so muss der Vielgestaltigkeit Europas auch in seiner politischen Organisation Rechnung getragen werden. Das „mehr Europa“, wie es von Berlin propagiert wird, läuft auf eine innere Vereinheitlichung Europas hinaus. Die ist in der Tat unverzichtbar, wenn Europa in seiner gegenwärtigen Verfasstheit aus der Finanz- und Wirtschaftskrise herauskommen will. Da dieses „mehr Europa“ jedoch infolge des Widerstands vieler anderer nicht durchsetzbar ist, lohnt es sich vielleicht, noch einmal über alternative Organisationsmodelle für Europa nachzudenken – ganz unverbindlich und ohne den Zwang, dabei sogleich die politischen Realisierungschancen ausloten zu müssen.

Unklare Grenzen

Im Osten und Süden hat Europa geographisch und kulturell unscharfe Grenzen: Für die einen endet es an der polnischen Ostgrenze, andere rechnen die Ukraine noch dazu, wieder andere bestehen darauf, dass Ural und Wolga die Ostgrenze Europa bildeten. Geographie, Politik und Kultur geraten hier in einen Widerstreit miteinander, der vor einem Jahrzehnt in den Debatten über eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei sichtbar, aber nicht begriffen wurde. Es gibt hier eben keine Grenzen, die eindeutig und sinnfällig sind, ebenso wenig wie das im europäischen Süden der Fall ist. Der Geopolitiker Friedrich Ratzel hat Griechenland einmal als die Südausbuchtung des Kontinents bezeichnet, die Afrika am nächsten sei, und viele Italiener meinen – halb im Scherz, aber doch auch mit einer gehörigen Portion Ernst –, Europa ende südlich von Rom und dann beginne Afrika. Im Gegensatz dazu haben Franzosen, Spanier und auch Italiener im 19. Jahrhundert die gegenüberliegende Mittelmeerküste unter ihre Kontrolle gebracht und dort Kolonien errichtet. Algerien war staatsrechtlich sogar einmal Teil Frankreichs.

Das nicht geringste Problem, das die Erweiterungsrunden der EU nach sich gezogen haben, war die Durchsetzung harter und möglichst unüberwindlicher Grenzen dort, wo zuvor ein reger Austausch geherrscht hatte. Hier wurden Räume getrennt, die sich über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende gemeinsam entwickelt hatten. Die Folge war, dass die durch die europäische Grenzziehung Ausgeschlossenen alles daran setzten, um nach Europa hineinzukommen – sei es durch offiziellen Beitritt, sei es als illegale Migranten. So wiederholt sich an den Außengrenzen der Union ein Problem, das die EU auch im Inneren hat: dass sie trennt, was zusammengehört, und homogenisiert, was nicht zusammenpasst. Zwar kann man sagen, dass nahezu jeder Nationalstaat das im Laufe seiner Geschichte auch gemacht habe. Aber das war mit viel Leid und Unglück verbunden, und die Methoden, die dabei angewandt wurden, lassen sich heute nicht wiederholen. Zu unserem Glück!

Historische Vorbilder?

Mehr als der Nationalstaat könnten einige Imperien als organisatorisches Vorbild der EU dienen: Sie haben den Raum, den sie umfassten, nicht gleichmäßig integriert, sondern auf regionale Sitten und Gebräuche Rücksicht genommen. Sie haben ein gemeinsames Handelsrecht und eine Handelswährung durchgesetzt, aber unterhalb dieser blieben die regionalen Währungen in Geltung. So hatten die Provinzen Spielräume, um ihre jeweilige Identität zu bewahren. Man muss die Ordnungen Roms, der Donaumonarchie und des British Empire nicht idealisieren, um aus ihnen Anregungen und Hinweise für eine Flexibilisierung der Europäischen Union zu bekommen. Imperiale Ordnungen bestehen aus Kreisen und Ellipsen, die im einen Fall weiter gefasst, im anderen enger und in manchen dezentriert sind, so dass unterschiedliche Intensitätsgrade der Integration entstehen. In mancher Hinsicht ist die EU, wohl ohne es zu wissen, diesem Modell bereits gefolgt: Das Gebiet der Europäischen Union ist weder mit dem Euro- noch mit dem Schengen-Raum identisch. Diese Flexibilität gilt es weiterzuentwickeln, und dabei sollte die Nichtidentität des Gesamtraums nicht als Manko, sondern als Vorzug verstanden werden. Es handelt sich dann nicht um eine Diversifikation von Binnenräumen, die nur ein Zwischenstadium auf den Weg zur Schaffung eines einheitlichen Europas ist, sondern Diversifizierung und Flexibilität sind und bleiben zentrale Bauprinzipien der Gemeinschaft. – Was „die Märkte“ dazu sagen? Sie werden die Flexibilität zu nutzen wissen, und das nicht zum Nachteil des Gesamtverbandes.

Herfried Münkler
Prof. Dr. Herfried Münkler war bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor kurzem erschien der mit seiner Frau Marina verfasste Band „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Rowohlt).

© Stephan Roehl/Privat rowohlt.de